Seit der tödlichen Messerattacke an Daniel H. und den Ausschreitungen vor einer Woche befindet sich das ehemalige Karl-Marx-Stadt im Ausnahmezustand. Über eine Stadt, deren Wirklichkeit komplexer ist, als manche Bilder vermuten lassen.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Chemnitz - Kinderlehrsätze: „Wir wenden keine Gewalt an. Wir beschimpfen uns nicht. Wir hören einander zu.“ Die Regeln standen auf der Tafel einer Chemnitzer Schule, die der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer Ende letzter Woche besucht hat. Der Fußballer Michael Ballack, Deutschlands „Capitano“, hat hier gelernt, ein Chemnitzer zum Vorzeigen. Kretschmer kommt am Sonntag wieder in die Stadt, zu einer Gedenkstunde der evangelischen Kirche. Die Stimmung empfindet er als „gedrückt“. Die Menschen seien „verunsichert und gespalten“.

 

Man sieht die Gespaltenheit auch am Samstag an den Strömen von Leuten, die sich auf den Bürgersteigen links und rechts auf der Brückenstraße bewegen. 4000 Menschen ziehen an den Parkplatz vor der Johanniskirche, wo die Kundgebung unter dem Motto „Herz statt Hetze“ steht und der Keyboarder der Band Madsen die alte DDR-Hymne spielt: „Auferstanden aus Ruinen, und der Zukunft zugewandt.“ Ebenso viele Demonstranten stehen unter dem Karl-Marx-Denkmal, dem Nischel, wie der große Kopf in Chemnitz heißt: Anhänger von Pegida, AfD und vor allem von der Bürgerbewegung Pro Chemnitz. Zwischen den beiden Plätzen, genau in der Mitte, liegt der Ort eines Verbrechens: Kerzen sind in Kreisen aufgestellt, wo Daniel H. durch fünf Messerstiche zu Tode kam. Dringend tatverdächtig sind ein Syrer und ein Iraker. Beide sitzen nach wie vor in Untersuchungshaft. Immer noch liegt ein Zettel inmitten der Blumen. Darauf steht: „Nehmt ihnen die Messer – oder wir nehmen euch die Ämter.“

„Wir sind das Volk“ und „Lügenpresse“ werden skandiert

„Ich habe diesen Satz nicht ganz so gesagt“, ruft Martin Kohlmann unter dem Nischel in die Menge, aber wo die Worte nun mal in der Welt seien, wiederhole er sie auch. Und dann sagte er sie noch einmal, damit „die Politik endlich ihre Hausaufgaben macht“. Das klingt bieder und nicht direkt nach Brandstiftung, aber man muss genau hinhören. Es ist die Pro-Chemnitz-Art zu zündeln. Kohlamnn ist der Vorsitzende von Pro Chemnitz, das Bündnis hat neuerdings drei Sitze im Stadtrat, ist aber vor Ort seit den Ausschreitungen der Demonstration am vergangenen Montag eine unheimliche Macht geworden. Pro Chemnitz hat die Kundgebung organisiert, die dann eskalierte, den Haftbefehl in den sozialen Medien lanciert und nicht nachgelassen, die Ablösung der Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig zu verlangen, die Pro Chemnitz unter anderem des Aufrufs zur Selbstjustiz beschuldigt hatte. Zu Recht, wie fast jeder weiß.

Vordenker von Pro Chemnitz ist der gebürtige Chemnitzer Zschocke, Jahrgang 1986. Er ist nicht leicht zu fassen. Er hat über den Pop-Literaten Christian Kracht und Thomas Bernhard geschrieben, eine Hommage an Heiner Müller verfasst und das rechte Jugendmagazin „Blaue Narzisse“ gegründet. Er ist Rechtsfachwirt und Maler. Seine eigentliche Aufgabe aber sieht er darin, „das System Merkel“ zu beenden. Der Mord an Daniel H., man kann das nicht anders sagen, soll dafür der Hebel sein. Zschocke ist kein lauter Agitator, er dosiert seine Rhetorik genau. Und er bleibt im Hintergrund. Zum Gedenken an Daniel H. hat der Vorsitzende Marztin Kohlmann eine kleine kubanische Flagge mitgebracht, „aber“, sagt er, „die werdet ihr heute Abend bestimmt nicht in der ,Tagesschau‘ sehen“. Die Sätze zeigen sofort Wirkung: „Wir sind das Volk!“, „Merkel muss weg!“ und „Lügenpresse“ werden skandiert, wenn er eine kurze Pause macht.

Die ehemalige Karl-Marx-Stadt wurde nie besonders beachtet

Chemnitz ist gespalten, und Steve ist es auch. Im Eingang von seinem Headshop in der Chemnitzer Hainstraße, wo Hanfsamen und Pfeifen verkauft werden, steht eine Kerze. Der Ermordete Daniel H., ein „ruhiger, freundlicher Mann“, wie der Besitzer des Hanfladens sagt, war hier Kunde. Das erzählt Steve nach zehn Minuten, ständig hin- und hergerissen, ob er einen jetzt weiter beschimpfen soll oder etwas von seiner Befindlichkeit erzählen: „Es wird“, davon ist Steve überzeugt, sowieso „nur Müll geschrieben über uns, das war immer so und wird immer so bleiben“. Allerdings ändere sich „gerade was auf der Straße. Es ist eine Stimmung wie 1989. Irgendwas kippt.“

Die Hainstraße liegt auf dem Chemnitzer Sonnenberg, ist in Teilen Prenzlau in Berlin nicht ganz unähnlich. Die Linke-Abgeordnete Susanne Schaper hatte ihr Büro hier, hat es aber geräumt, nachdem rechte Hassparolen an der Wand und übler Müll im Briefkasten Normalität geworden waren. Außerhalb von Chemnitz wurde das nicht groß zur Kenntnis genommen, wie überhaupt die ehemalige Karl-Marx-Stadt nie besonders beachtet wurde. Berichte aus dem Osten befassten sich meist mit Licht und Schatten in Leipzig und Dresden.

Die Normalbürger wollen ein Zeichen setzen

„Dabei“, sagen Barbara und Heinz Laske, „ist unsere Stadt schöner geworden, und es geht den Menschen insgesamt nicht schlecht.“ Barbara Laske war Lehrerin, ihr Mann bis zur Pensionierung bei einer Werbeagentur. Sie stehen bei der Kundgebung an der Johanniskirche, um „ein Zeichen zu setzen“. Sie wollen nicht kleinreden, dass es „in der Stadt kocht“, weil der Zuzug von Fremden „nicht gut genug vorbereitet worden“ sei, nicht von der Bundes- und auch nicht von der Kommunalpolitik. Laskes haben geholfen, dass die afghanische Familie in ihrem Elf-Parteien-Wohnhaus jetzt ein Bleiberecht hat, aber sie haben auch gemerkt, dass die „Konfrontation in der Stadt ständig zugenommen hat“. Wie löst man das? Der Ostpreuße und „stolze Sachse“ Kurt Wenzel auf der Pro-Chemnitz-Kundgebung sagt, wie es seiner Meinung nach sein sollte: „Ausländer müssen sich nach den Hiesigen richten.“ Die Antwort vor dem Nischel kommt prompt aus Tausenden Kehlen: „Wir sind das Volk!“

Dass am vergangenen Montag auf der ersten Pro-Chemnitz-Demonstration dutzendfach Leute den Hitlergruß gezeigt haben – Bilder, die um die Welt gingen und weswegen Medien wie die „New York Times“ in Chemnitz sind – hat das Ehepaar Laske entsetzt. Spätestens da hätten „normale Bürger“ der Szene den Rücken zuwenden müssen. „Aber sie sind geblieben, die Dumpfbacken“, sagt Heinz Laske. Damit sich das am Samstag nicht wiederholt, und es wiederholt sich nicht, wie festgehalten werden muss, gibt ein Pro-Chemnitz- Aktivist klare Parolen aus: „Kein Bier, keine Drogen, kein rechter Arm. Notfalls bindet ihr euch den fest.“

Die AFD-Politiker haben perfiderweise weißen Rosen in der Hand

Die andere Seite ist die, dass Pro Chemnitz die Kundgebung mit der Aufforderung schließt, es könne von jetzt an „jeder machen, was er will“. Der von der öffentlich stark kritisierten und massiv verstärkten Polizei vorgeschriebene Demonstrationsweg wird abgelehnt. Also treffen sich, Seite an Seite, AfD-, Pegida- und Pro-Chemnitz-Gruppen, die bisher Abstand hielten, auf der Ringstraße zum von der AfD beantragten Schweigemarsch: vorneweg Björn Höcke und Lutz Bachmann, perfiderweise mit weißen Rosen in der Hand, dem Symbol des antifaschistischen Widerstands. Weit kommt der Zug nicht. Es gibt kleinere Konfrontationen mit anderen Demonstranten, aber insgesamt bleibt die Lage ruhig. Als die Polizei den Marsch auflösen will, weil die beantragte Zeit abgelaufen ist, rührt sich der Widerstand lediglich verbal: „Der Rechtsstaat hat vor den Linksextremisten kapituliert“, ruft ein Mann von der AfD. Nichts daran stimmt.

Gleichwohl: Dass Ruhe einkehrt in Chemnitz, ist unwahrscheinlich, und wenn, wäre es eine trügerische. Montagabend haben sich unter dem Motto „#Wir sind mehr“ die Chemnitzer Hip-Hop-Größen Kraftklub und Trettmann mit den Toten Hosen zu einem Solidaritätskonzert verabredet, deren Sänger Campino aber eine „Systemhure“ sei, wie der Altpunk von Pro Chemnitz ruft. Weichen? Standhalten? Der 53-jährige Uwe Dziuballa muss die Frage immer wieder für sich beantworten. Er ist Chemnitzer Jude, war Investmentbanker und ist seit fast 20 Jahren Wirt des Schalom, zuerst am Bahnhof, jetzt in der Heinrich-Zille-Straße. Neonazis haben immer wieder Hakenkreuze an sein erstes Lokal geschmiert, einmal sogar einen Schweinekopf vor die Tür gelegt. Am letzten Montag haben Unbekannte Steine auf sein Lokal geworfen und gerufen: „Hau ab aus Deutschland, du Judensau!“

Dziuballa mag Chemnitz trotz allem nicht den Rücken kehren. Er hat ihn vielmehr durchgedrückt und serviert am Samstagabend in einem fort Mezze und koscheres Bier. Das Lokal ist voll bis auf den letzten Platz. Es gibt nicht eines, es gibt sehr viele verschiedene Chemnitz.