Die Städte Ditzingen, Gerlingen, Korntal-Münchingen sowie die Gemeinde Hemmingen können sich nicht immer gut leiden, manchmal beherrschen immer noch die immer selben Emotionen eigentlich sachliche Diskussionen. Und doch rücken die Kommunen inzwischen immer enger zusammen.
Strohgäu - Größer könnten die Unterschiede nicht sein, daran hat sich seit jeher nichts geändert, gar nichts. Der Gerlinger kann den Ditzinger immer noch nicht leiden, umgekehrt ist es nicht anders. Ursprünglich neidete der Gerlinger Bauer dem Ditzinger Kollegen die größeren Kartoffeln, heute sind es die Gewerbesteuermillionen. Nicht, dass es dem kompakt gewachsenen Gerlingen schlecht ginge, immerhin befindet sich auf der Schillerhöhe der Sitz der Bosch-Hauptverwaltung. Aber so war es schon immer, der Nachbar soll es nicht besser haben, als man selbst. Diese Erinnerung lebt bis heute fort, wenn auch im Unterbewusstsein.
Erinnerungen, auch emotional behaftete, hochzuhalten bedeutet, positiv formuliert, sich seiner Wurzeln zu besinnen; umso mehr, um dem Modernisierungsprozess zu trotzen. Die Globalisierung ist schließlich weder überschaubar noch kontrollierbar, löst aber gerade deshalb bei vielen diffuse Ängste aus. Eine der – freilich unbeabsichtigten – Folgen der Globalisierung sei die wachsende Sehnsucht der Menschen nach Verwurzelung in einer Kommune, beobachtet der Frankfurter Kulturanthropologe Heinz Schilling. Jeder ist also um seinen Platz bemüht. Viele Menschen haben ihn gefunden, geben dem Strohgäu ein Gesicht und helfen anderen dabei, hier sesshaft zu werden. Solche Personen werden in den kommenden Wochen an dieser Stelle zu Wort kommen, und an ihren Platz – symbolisiert durch einen strohgelben Stuhl – in der Gesellschaft führen, wo sie dazu beitragen, das Strohgäu zur Heimat zu machen.
Heimat nämlich „bleibt als Konstante, wie auch immer sich die Rahmenbedingungen ändern“, schreibt Schilling. Sie sei ein symbolisches Territorium, das fundamentale Bedürfnisse unangetastet lassen soll, psychische Sicherheit biete und soziale Anerkennung zuteil werden lasse. Heimat sei keiner Mode unterworfen, die Werte seien gleichbleibend, so Schilling.
Er beobachtet aber auch, dass Heimat „die konkrete Ortsbindung verliert“. Der Mensch sei nicht mehr in einem Ort zu Hause, vielmehr in einer Region, in der man dieselbe Zeitung lese, den selben Dialekt spreche, meint auch die Tübinger Kulturwissenschaftlerin Carmen Weith. Oder man spielt zusammen Fußball und kümmert sich gemeinsam um die Nachwuchsförderung, wie es die Gerlinger Vereine KSG und FCG seit rund einem Jahr tun – vor Jahrzehnten noch undenkbar, zu groß waren die Unterschiede. Aber der Mangel an Nachwuchs weist neue Wege. Gleichwohl steckt weit mehr dahinter, nämlich die Abkehr vom kleinräumigen Denken.
Heimat verpflichte laut Schilling auch dazu, sich aktiv für sie einzusetzen, sich „auseinanderzusetzen und sich abzustimmen, mit denen, die sie anders haben wollen“; das schließt im übrigen den Neubürger anderer Nationalität ebenso ein wie jenen aus dem Nachbarort.
Dabei sind die Ditzinger und Gerlinger, nicht die einzigen, die, wie eingangs beschrieben, nicht „miteinander können“, also ausschließlich emotional aufeinander reagieren. Die Korntal-Münchinger sind noch extremer: da müssen zwei Orte eine Stadt bilden, die gegensätzlicher nicht sein können. Sie bilden seit der Kreisreform in den 1970er-Jahren eine Zweckgemeinschaft – auch wenn der Bürgermeister Joachim Wolf als erster Rathauschef explizit nicht um eine Angleichung wirbt, sondern die Vielfalt als Stärke propagiert. Noch sind die Korntal-Münchinger zu stark mit sich selbst beschäftigt, um sich als selbstbewusste Stadt positionieren zu können. Erste Ansätze gibt es; der Bürgermeister scheiterte allerdings mit seiner Idee der Strohgäu-Stadtwerke, die ein Verbund über den Altkreis Leonberg hinaus bedeutet hätte.
Die Gegensätze in Korntal-Münchingen sind freilich auch extrem groß zwischen dem gen Stuttgart orientierten, städtischen, gleichwohl historisch bedingt pietistischen Korntal und dem ursprünglich bäuerlichen, dörflichen Münchingen.
Doch nicht nur der Korntal-Münchinger Rathauschef, auch Michael Makurath, der Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Ditzingen muss ausgleichend wirken zwischen den Ortsteilen. In Ditzingen sind es derer drei, die spätestens mit der Eingliederung Hirschlandens 1975 zusammen mit Ditzingen eine Stadt bilden. Die Vertreter der Dörfer im Gemeinderat sind allerdings nicht allzu sehr im Konkurrenzdenken verhaftet. Verwaltung und Gemeinderat haben vielmehr daran gearbeitet, unterschiedliche Schwerpunkte herauszubilden, die Kernstadt etwa zum Sitz der wesentlichen Infrastruktur zu machen. So müssen sie einander nichts neiden. Vielleicht hat auch das dazu beigetragen, dass die Ditzinger zwar nicht minder emotional, aber, anders als die Gerlinger, auch rational mit dem Nachbarn umgehen können.
Gleichwohl, bei allen Befindlichkeiten: Ditzingen, Gerlingen, Hemmingen und Korntal-Münchingen, die einst im Altkreis Leonberg lagen und nun zum Kreis Ludwigsburg gehören, rücken zusammen. Gleichwohl nimmt Hemmingen eine Sonderrolle im Bund dieser Kommunen ein. Sich allein der Größe wegen nicht mit den Städten messen zu müssen gibt der Gemeinde die Freiheit, sich ohne den ständigen Blick auf den Nachbarn unbefangen zu entwickeln. Dass Porsche über Jahre hinweg verlässlich Gewerbesteuermillionen in die Kasse spülte, trug freilich zu diesem Selbstbewusstsein bei.
Trotz aller Differenzen, auch innerhalb einer Stadt, sind die vier Kommunen heute also dichter beisammen, als je zuvor. Der Wettbewerb um Arbeitsplätze und Einwohner, der Konkurrenzkampf in der Region, im Speckgürtel der Landeshauptstadt, schweißt zusammen. Zumal sich die drängenden Themen ohnehin heute nur noch in größeren Zusammenhängen lösen lassen: Alle müssen um Neubürger werben in teuren Wohngebieten und Infrastruktur erhalten, die der Bürger auch in Zeiten rückgängiger Einwohnerzahlen nicht missen will, die aber auf eine größere Gruppe – auch an Gebührenzahlern – ausgelegt ist. Der direkte Konkurrent ist nicht mehr der Nachbarort, eher der Nachbarlandkreis oder eben gleich Stuttgart. Wenn schon nicht im Ort, wenigstens im Landkreis soll das Angebot stimmen.
Die Wege sind länger geworden, aber sie sind schneller zu überwinden. Laut Schilling werde die Region so „zum emotionalen Puffer zwischen Heimat und Globalisierung“. Die Grenzen dieser Region, die Heimat umfasst, sind fließend – das macht die Räume weiter, nicht aber immer die Gedanken. Die sind in der Kommunalpolitik bisweilen noch arg eng.
Das beste Bespiel dafür ist der von den Gerlingern und ihrem Bürgermeister Georg Brenner scharf kritisierte zweite Ditzinger Autobahnanschluss. Der Verkehrsströme Herr zu werden ist ein berechtigtes Anliegen der Ditzinger, spätestens mit der Ansiedlung von Thales. Ob sie deshalb allein damit zurecht kommen müssen, weil sie die Gewerbesteuer des Unternehmens einnehmen? Dass Gerlingen profitieren wird, Einkommensteueranteile gut verdienender Ingenieure unter den Neubürgern erhält, ist auch Teil der Wahrheit.
Da bricht sie wieder raus, die alte Sichtweise: Soll der Nachbar doch alleine zurechtkommen. Eine solche emotionale Reaktion wird immer bleiben, aber gewiss nicht als Argument in einer sachlichen Diskussion. Doch das braucht Zeit, auch im Strohgäu. Hilfreich mag sein, dass mit Thomas Schäfer als jungem Bürgermeister eine neue Generation ins Hemminger Rathaus eingezogen ist. So ist nun möglich, was lange undenkbar war: Schäfer würdigte eine gute Idee der Ditzinger öffentlich als solche. Das hatte es bei den altgedienten, gleichwohl für Kontinuität stehenden Bürgermeistern nicht gegeben. Schäfer aber lebt diesen weiterentwickelten Begriff von Heimat: man anerkennt und identifiziert sich mit einer Sache, auch einem Ort, über die Ortsgrenzen hinweg. Man unterscheidet aber auch und trennt, bisweilen messerscharf – an eben jener Grenze.