In Deutschland liegen 12,7 Millionen Männer und Frauen mit ihrem Einkommen unterhalb der Armutsgrenze. Die Zahl der Abgehängten ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.

Stuttgart - Die Schere zwischen Arm und Reich ist in Deutschland in den zurückliegenden Jahrzehnten auseinander gegangen. Denn vom Anstieg der Wirtschaftsleistung zwischen 1991 und 2014 um real 22 Prozent haben die Haushalte nach einer Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin nicht in gleicher Weise profitiert. So sind die verfügbaren Einkommen der zehn Prozent am besten verdienenden Haushalte real – das heißt nach Abzug der Inflation – um 27 Prozent gestiegen; die zehn Prozent der Haushalte mit den geringsten Einkommen mussten sogar Verluste von acht Prozent hinnehmen. In den mittleren Gruppen sind die verfügbaren Einkommen um neun Prozent gestiegen. Berücksichtigt sind Löhne und Gehälter, Renten und Pensionen sowie Transferzahlungen: Kindergeld, Wohngeld und Arbeitslosengeld. Lohn- oder Einkommensteuer sowie die Sozialabgaben sind abgezogen.

 

Die Autoren Markus Grabka und Jan Goebel haben frühere Studien um die aktuellsten verfügbaren Daten für das Jahr 2014 ergänzt. Bei der Fortschreibung der Daten haben sich aus ihrer Sicht Anzeichen für eine wieder steigende Einkommensungleichheit ergeben. Es gebe unterschiedliche Messzahlen, die darauf hindeuten, sagt Grabka. Nach einem kontinuierlichen Anstieg der Ungleichheit zwischen 2000 und 2005 wurde dieser Trend gestoppt; bis 2009 kam es zu keiner weiteren Einkommensspreizung. Dann begann sich die Schere wieder zu öffnen.

Alleinerziehende sind steuerlich benachteiligt

Ausschlaggebend für die über Jahrzehnte hinweg größer gewordene Einkommensungleichheit ist nach Überzeugung von Grabka und Goebel die Ausweitung des Niedriglohnsektors und das Aufkommen atypischer Beschäftigungsverhältnisse in den vergangenen 20 Jahren (zum Beispiel Minijobs, Leiharbeit und Befristungen). Deshalb geraten immer mehr Menschen in finanzielle Schwierigkeiten, obwohl sie arbeiten gehen. Als weiteren Grund nennen die Wissenschaftler eine unzureichende Anpassung von Sozialleistungen an die Inflation. Grabka empfiehlt als Gegenmittel die Eindämmung des Niedriglohnsektors, in dem zum Beispiel die Steuer- und Sozialabgabenprivilegien bei Minijobs gestrichen werden. Weitere Maßnahmen könnten aus seiner Sicht die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Abschaffung der steuerlichen Benachteiligung von Alleinerziehenden gegenüber kinderlosen Paarhaushalten sein. Lobend erwähnen die Wissenschaftler die Einführung des Mindestlohns zum 1. Januar 2015 als Schritt, um einer weiter steigenden Einkommensungleichheit entgegenzuwirken.

Deutschland hat in den zurückliegenden Jahren auch die Vorgaben der Vereinten Nationen verfehlt. Danach sollen die Einkommen der unteren 40 Prozent der Bevölkerung stärker wachsen als im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. In Deutschland ist das Einkommen dieser Gruppe seit 1999 sogar gesunken.

Je jünger die Geburtsjahrgänge, desto größer das Risiko

Unterdessen sind auch mehr Menschen von Armut bedroht. Als Armutsgrenze wird kein absoluter Betrag angesetzt, sondern ein Wert von 60 Prozent des mittleren Haushaltsnettoeinkommens der Gesamtbevölkerung (gegenwärtig 1050 Euro pro Monat für einen Ein-Personen-Haushalt). Unter dieser Grenze lagen im Jahr 2014 nach den Daten des DIW in Deutschland 12,7 Millionen Menschen – etwa 16 Prozent der Bevölkerung; vor zehn Jahren waren es lediglich 14 Prozent, in den neunziger Jahren gar nur elf Prozent. Besonders betroffen, so schreiben Grabka und Goebel, seien Kinder und Jugendliche; danach sind 20 Prozent von ihnen von Armut bedroht. Das sind etwa vier Prozentpunkte mehr als vor 20 Jahren. Die Wissenschaftler heben hervor, dass der Anstieg fast ausschließlich auf die Jahre 2004 bis 2014 entfällt. Ein weiterer Befund: Das Armutsrisiko bei Kindern und Jugendlichen ist umso höher, je jünger die Geburtsjahrgänge sind.

Als auffallend bezeichnen die DIW-Forscher den Anstieg des Armutsrisikos von Menschen im Rentenalter in den neuen Bundesländern. Von 2002 bis 2014 hat sich diese Gruppe ungefähr verdoppelt auf etwa 15 Prozent und ist nun sogar geringfügig größer als in Westdeutschland. In den zurückliegenden Jahren sind in der früheren DDR immer mehr Männer und Frauen in Rente gegangen, die nach der Wende längere Phasen von Arbeitslosigkeit durchgemacht haben und deshalb weniger Rente bekommen als Menschen, die gleich nach der Wiedervereinigung in den Ruhestand gegangen sind.