Eugen Hausmann ist vor 94 Jahren in Erkenbrechtsweiler im Kreis Esslingen geboren worden. Dort ist er aufgewachsen und zur Schule gegangen. Dort hat er geheiratet und gearbeitet. Dort lebt er jetzt noch. Er weiß, wie sich Heimat anfühlt.

Erkenbrechtsweiler - Um die Heimat macht Eugen Hausmann wenig Federlesens. Sollen sich andere beim Versuch abarbeiten, den schwammigen Begriff garniert mit schlauen Erklärungen, gedankenschweren Analysen oder politischen Spitzfindigkeiten an die Wand zu nageln. Er weiß, was Heimat ist und wo Heimat ist. Er hat sie gefunden. Genau genommen hat sie ihn gefunden. Seine Heimat war schon da, als er im Jahr 1923 in der Kirchstraße 6 zur Welt kam. Am Ergebnis ändert das nichts: Eugen Hausmann lebt seit 94 Jahren in Erkenbrechtsweiler, einem kleinen Dorf auf der Schwäbischen Alb. Das ist seine Heimat.

 

Und schon wird der so emotional aufgeladene Begriff auf seinen rationalen Kern reduziert. Heimat liegt 702 Meter über Normalnull. Heimat misst 6,93 Quadratkilometer. Heimat, das sind über den Daumen gepeilt 2200 Einwohner. Heimat, das ist das Mitteilungsblättle, das jeden Freitag kommt. Heimat, das ist die Aussegnungshalle, aber auch der Fußballverein, der am Sonntag dem Tabellenzweiten im Tal, dem TSV Oberensingen, im Spitzenspiel der Bezirksliga einen Punkt abgetrotzt hat.

Heimat kann auch einsam machen

Da spielt jetzt sogar ein Schwarzer mit. Biran Darboe heißt er, seine Heimat ist Gambia. „Der soll guat sei“, sagt Eugen Hausmann. Gesehen hat er ihn noch nicht. Er ist auf den Sportteil der Lokalzeitung angewiesen, den er jeden Montag als erstes liest. „I han koin, der mi mit ens Stadion nemmt“, sagt er. Heimat, wenn sie zu lange dauert, kann auch einsam machen.

Seit einem Sturz im Hobbykeller vor ein paar Monaten tut ihm das Kreuz weh. Ohne Laufwägele geht nichts mehr. Die Gehhilfe hat seiner Frau Johanna gehört, die vor acht Jahren gestorben ist. Jetzt leistet sie ihm gute Dienste.

Eugen Hausmann hat seine Frau im Weiler, wie sie hier auf der Vorderen Alb den Zungenbrecher Erkenbrechtsweiler abkürzen, kennengelernt. Die beiden bekommen einen Sohn und eine Tochter. Sie ziehen ins eigene Haus. Das stand damals am Ortsrand, jetzt steht es mitten im Ort.

Eugen Hausmann, der nie einen Führerschein gemacht hat, arbeitet als Maschinenschlosser bei dem inzwischen nach Erbstreitigkeiten liquidierten Elektrogerätehersteller ABC. Da kann er zu Fuß hin. Als er 63 Jahre alt ist, geht er in Rente. Zum Abschied gibt es einen Einkochapparat. Mittlerweile ist die Tochter gestorben. Der Sohn wohnt mit seiner Familie in Upfingen, einem Teilort von St. Johann im Nachbarkreis Reutlingen. Er kommt häufiger auf Besuch. Zuletzt war er da, um seinem Vater beim Saubermachen des Mostfasses zu helfen.

Auch Most kann Heimat sein

Auch Most kann Heimat sein. Eugen Hausmann hat noch 160 Liter des schwäbischen Nationalgetränks im Keller – nur noch. „Des roicht grad no bis zum Frühling“, sagt er. An Nachschub ist in diesem Jahr nicht zu denken. Nachdem die Blüte im Frühjahr erfroren ist, gibt es weit und breit keine Äpfel.

Selbst wenn sein Mostfass trocken fallen sollte, ist Eugen Hausmann privilegiert. Seine Jahrgangskameraden haben den irdisch-räsen Most schon lange gegen das himmlisch-süße Manna eingetauscht. „I be d’r oizig, der no da isch“, sagt Eugen Hausmann und zeigt auf ein leicht verschwommenes Foto im Bildband von Erkenbrechtsweiler. Es zeigt 19 Buben und Mädchen und den Lehrer Huber vor der Dorfschule. Für sie hat mit der Einschulung im Jahr 1930 gerade der Ernst des Lebens begonnen. Eugen Hausmann steht ganz links hinten. Er schaut wissend drein, ahnt aber noch nicht, dass er ein Menschenleben später der älteste männliche Einwohner des Albdorfs sein wird. Es soll noch eine Frau geben, die ein Jahr älter ist. Aber die, so sagt Eugen Hausmann, lebt jetzt im Pflegeheim in Beuren.

Nur einmal in seinem Leben, drei Jahre lang, hat Eugen Hausmann seiner Heimat den Rücken kehren müssen. In den Krieg geschickt ausgerechnet von jenen, die vorgegeben haben, die Heimat über alles zu stellen. In Frankreich und Ungarn hat der Soldat Hausmann für diesen fragwürdigen Heimatbegriff den Kopf hingehalten, dann war Schluss. Den Russen ist er entkommen, in Österreich haben ihn die Engländer eingesammelt. Im Kriegsgefangenentransport ging es nach Göppingen. Als der Zug unter einer Brücke angehalten hat, ist der Soldat Hausmann einfach ausgestiegen, hat die Uniform aus- und die Zivilsachen angezogen und ist nach Hause gegangen.

Die Heimat hatte ihn wieder. . .