Depression, Angst und Sucht Wie die Seele unter Corona leidet

Psychiater und Psychologen befürchten, dass durch die Pandemie bestehende psychische Probleme stark zunehmen. Foto: dpa/Victoria Bonn-Meuser

Existenzangst, Überforderung und Isolation: Die Pandemie hat auch immense psychische Auswirkungen. Bei vielen verstärken sich Depressionen und Angsterkrankungen. Vor allem Kinder und Jugendliche sind gefährdet – die Langzeitwirkungen von Corona auf unsere Psyche sind aber noch gar nicht absehbar.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Stuttgart - Von „Pandemiemüdigkeit“ ist in letzter Zeit oft die Rede. Nach elf Monaten Coronavirus mit massiven Einschränkungen sind viele Menschen nicht nur müde, sondern häufig auch komplett erschöpft. Viele Gruppen fühlen sich durch die Maßnahmen am Ende ihrer Kraft: Familien, Alleinerziehende, Singles. Die WHO-Direktorin für psychische Gesundheit, Devora Kestel, sagte kürzlich in einer virtuellen Pressekonferenz, die Psyche sei „ein vergessener Aspekt von Covid-19“. „Die Trauer um gestorbene Corona-Opfer, Vereinsamung, Einkommensverluste und Angst lösen psychische Erkrankungen aus oder verschlimmern bereits bestehende.“

 

Die Pandemie ist für alle eine psychische Herausforderung

Sars-CoV-2 ist längst nicht nur ein Virus, das unseren Körper angreift, sondern auch unsere Psyche. „Die Pandemie stellt für alle eine große psychische Herausforderung dar“, sagt der Psychiater Thomas Pollmächer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Dennoch sehe er bisher keine „pauschalen Auswirkungen auf die Psyche“. Das Bild sei differenzierter. Allerdings habe der Konsum an Suchtmitteln zugenommen, und die Behandlung psychischer Erkrankungen funktioniere derzeit schlechter, sagt Pollmächer. Seit Herbst sehe man zunehmend Patienten, die aufgrund der langen Dauer der Einschränkungen beruflich und privat „dekompensieren“. Das heißt: Viele Menschen können die übermäßige Belastung nicht mehr ausgleichen – es treten körperliche und psychische Symptome auf.

„Die Maßnahmen verstärken die Einsamkeit und führen bei vielen Menschen zu sehr berechtigten Existenzsorgen“, sagt Pollmächer, der Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Ingolstadt ist. Das treffe Menschen mit psychischen Erkrankungen besonders hart, weil sie oft schon vorher wenig soziale Kontakte hatten oder häufig in prekären Umständen leben. Aus seiner Sicht sollte dies die politisch Verantwortlichen motivieren, niederschwellige Behandlungs- und Hilfsangebote für diese Gruppen zu erhalten.

 

Welches Kind darf seinen Freund treffen?

Hanna Christiansen, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Marburg, sieht „gravierende Auswirkungen“ für Familien – vor allem aufgrund der Regelung, nur einen Kontakt außerhalb der Familie zu haben. Das trifft vor allem Familien mit mehreren Kinder hart. „Welches Kind kann dann seinen Freund oder seine Freundin sehen?“ Die Möglichkeiten der Kinderbetreuungen müssten deshalb für Familien mit großen Belastungen aufrechterhalten werden. Zudem sei es gut, wenn die Eltern sich kreative Möglichkeiten überlegten, wie die Kinder soziale Kontakte halten könnten zum Beispiel über Telefonate, Video-Chats oder indem sie draußen spazieren gehen. „Aber soziale Kontakte sind für alle Menschen wichtig“, betont Christiansen. Auch für Alleinstehende führten die derzeitigen Einschränkungen zu immensen Belastungen.

Auch Pollmächer sieht vor allem eine Gruppe besonders gefährdet während der Pandemie: Kinder und Jugendliche. „Wenn diese in einer vulnerablen Phase ihrer Entwicklung getroffen werden, kann es sein, dass bleibende psychische Erkrankungen resultieren.“ Er rechnet damit, dass die Coronakrise auch langfristig noch psychische Folgen für viele haben wird. Denn oft machen sich lang andauernde Stresszustände erst vier bis fünf Monate später bemerkbar.

Kinder sind zunehmend psychisch belastet

Im Auftrag der Betriebskrankenkasse Pronova wurden im Oktober – also noch vor der zweiten Welle – mehr als 150 Psychiaterinnen und Psychiater online befragt. 82 Prozent diagnostizierten bei ihren Patienten häufiger Angststörungen, knapp 80 Prozent mehr Depressionen. Die Fälle somatischer Beschwerden wie Müdigkeit, Erschöpfung und Schmerzen häuften sich ebenso wie Suchterkrankungen. Viele leiden zudem unter Schlafstörungen.

Laut Christiansen ist Corona ein „multidimensionaler Stressor“, der bestehende psychische Belastungen verstärke. „Wir wissen aus Erhebungen, dass deutlich mehr Kinder als vor der Pandemie psychische Belastungen angeben“, sagt die Psychologin. Man habe es mit einem Anstieg von 18 auf 31 Prozent zu tun. Zu diesem Ergebnis kam die Copsy-Studie (=Corona und Psyche) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Betroffen seien vor allem Kinder aus einkommensschwachen Familien – Armut war auch schon vor Corona ein Risikofaktor für psychische Erkrankungen. „Die Risiken, die vorher bestanden, haben sich aber durch Corona verschärft“, sagt Christiansen. Bei Erwachsene werden es die einschneidenden sozialen und wirtschaftlichen Langzeitfolgen sein, die als Spätfolge dann auch vermehrt zu psychischen Erkrankungen führen können, sagt Pollmächer.

Erste Studien weisen auf Spätfolgen hin

Auch erste Forschungsbefunde zu den Langzeitfolgen liegen bereits vor. „Es ist also auf jeden Fall damit zu rechnen, dass Spätfolgen auftreten,“ sagt Christiansen. Die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) habe deshalb dazu ein Positionspapier verfasst. „Die Covid-19-Pandemie kann – das lehren Erfahrungen mit früheren Pandemien und Krisen – als ein neuer, einzigartiger und potenziell toxischer Stressfaktor interpretiert werden“, heißt es in dem Papier. Die DGPs fordert in der ambulanten Versorgung eine „Corona-Sprechstunde“ für Menschen, die an den Belastungen der Pandemie leiden, und vor allem für Covid-19-Erkrankte, die häufig mit psychischen und neurologischen Spätfolgen kämpfen.

Auch beim Ausarbeiten von Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie sollten politische Entscheidungsträger die wissenschaftliche Expertise von Psychologen einbeziehen, heißt es in dem Papier weiter. Denn mittlerweile machten sich auch bei vielen die ökonomischen Folgen von Corona bemerkbar. „Wir wissen aus der Wirtschaftskrise, dass damit ein erhöhtes Suizidrisiko verbunden ist“, betont Christiansen.

Die Ressourcen verbrauchen sich im Laufe der Krise

Zu Beginn einer Krise verfügt laut Pollmächer (fast) jeder über geistige und materielle Ressourcen und nutzt diese erfolgreich. „Aber die Ressourcen verbrauchen sich natürlich im Laufe einer langen Krise“, sagt er. „Wenn kein Ende absehbar ist, nehmen solidarische Impulse ab und egoistische zu.“ Er glaubt nicht, dass die Gesellschaft in Deutschland schon an diesem Punkt sei, es sei noch viel Solidarität zu spüren. „Aber die Gefahr, dass sich das ändert, ist groß – und sie wächst“, sagt der Psychiater. Der Politik müsse es daher gelingen, die Einschränkungen plausibel und ihre soziale Ausgewogenheit glaubhaft zu machen.

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