Vor 100 Jahren hat Albert Einstein mit seiner Allgemeinen Relativitätstheorie ein neues Bild vom Kosmos geschaffen.
Stuttgart - Selten war das Burlington House am Londoner Picadilly so überfüllt mit Physikern wie am 6. November 1919. Der Anlass schien Routine: Nicht zum ersten Mal berichtete der Astronom Frank Dyson von der Beobachtung einer Sonnenfinsternis. Doch die Bilder, die er und sein Kollege Arthur Eddington diesmal von ihren Expeditionen mitbrachten, fegten ein 200 Jahre altes Weltbild hinweg.
Als Albert Einstein am nächsten Morgen in Berlin aufwachte, fand er sich berühmt. Die Welt werde nie mehr sein wie zuvor, waren sich die Zeitungen einig. „Papa, warum bist du so berühmt?“, fragte Einsteins neunjähriger Sohn später. Das Genie antwortete bescheiden: „Wenn ein blinder Käfer an einem gekrümmten Ast entlang kriecht, merkt er nicht, dass der Ast gekrümmt ist. Ich hatte das Glück zu bemerken, was der Käfer nicht bemerkt hat.“
Die britischen Astronomen hatten dem Käfer die Blindheit genommen. Ihre Bilder zeigten Sterne, die am Rand der verdunkelten Sonne sichtbar wurden, an einer anderen Position als sie eigentlich sein sollten. Eddingtons Team demonstrierte so, dass Sternenlicht in der Nähe der Sonne einer gekrümmten Bahn folgt. Daher scheint es so als seien Sterne ein Stückchen verschoben. Die Astronomen bestätigten somit eine der zentralen Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie, die Einstein vier Jahre zuvor, im November 1915, in Berlin vorgestellt hatte.
In die Reihe der großen Physiker eingereiht
Mit diesem Werk reihte sich Einstein endgültig in die Reihe der größten Physiker wie Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei oder Isaac Newton ein. Diese Forscher veränderten Weltbilder. Sie räumten alte Möbel aus den Oberstübchen der Menschen und stellen neue hinein. Einstein tat das gründlicher als kaum jemand davor, und niemand seit ihm.
Vor Einstein stellten sich Physiker den Weltraum vor wie eine Bühne, eine teilnahmslose Plattform für das Schauspiel des Universums, mit Planeten, Sternen und Galaxien als Darsteller. Nach jenem Novembertag im Jahr 1919 war klar: Der Raum ist selbst ein Darsteller. Genauer gesagt, die Verbindung aus Raum und Zeit, die „Raumzeit“, die Einstein schon zehn Jahre vorher in seiner Speziellen Relativitätstheorie eingeführt hat. Dort hatte er gezeigt, dass für Beobachter, die sich relativ zueinander bewegen, sowohl Raum als auch Zeit sich unterschiedlich dehnen oder stauchen. Doch diese Theorie ließ offen, was passiert, wenn sich Beobachter gegeneinander beschleunigen, wie das etwa der Fall ist, wenn der eine frei fällt, während der andere auf der Erdoberfläche steht.
Das schaffte erst die Allgemeine Relativitätstheorie, und mit ihr entdeckte Einstein die Raumzeit als aktiven Part im Schauspiel des Universums. Sie interagiert mit den anderen Darstellern und tritt in unterschiedlichsten Gewändern auf. In den folgenden Jahrzehnten entpuppte sich die Raumzeit sogar als Hauptdarsteller und sorgte für überraschende Wendungen in einem Schauspiel namens Kosmologie.
Neue Theorie der Gravitation
„Eine der erstaunlichsten Episoden der Wissenschaftsgeschichte“ nennen Jürgen Renn vom Max-Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und Michel Janssen von der University of Minnesota in Minneapolis Einsteins Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie. Denn Einstein schuf damit eine neue Theorie der Gravitation, obwohl die damals seit fast 200 Jahren gültigen Gravitationslehre Newtons den Lauf der Planeten und die Phänomene der Schwerkraft auf der Erde hervorragend erklärte. Es war, als reiße jemand ein solides Haus ein und baue ein neues, obwohl das alte nur einen Haarriss aufgewiesen hatte. Lediglich die Bahn des Merkurs um die Sonne ließ sich in einem bestimmten Detail nicht mit Newtons Theorie erklären.
Dem philosophisch tiefgründig denkenden Einstein gefiel jedoch ein Eckstein der alten Theorie ganz und gar nicht. Denn dieser setzte einen seltsamen und für Einstein inakzeptablen Zufall voraus. Die Geschichte dieses Zufalls beginnt mit einer Beobachtung, die jeder kennt: Es ist schwerer, eine Bowlingkugel zu beschleunigen als einen Tennisball. Die Masse eines Objektes bestimmt dessen Trägheit, also seinen Widerstand gegen Tempoerhöhung. Newton hatte diesen Umstand in Formeln gegossen. Es gibt aber eine Ausnahme von dem Prinzip „größere Masse – schwerer zu beschleunigen“: die Gravitation. Sie lässt alle Gegenstände, egal wie schwer sie sind, mit der gleichen Beschleunigung fallen. Fast jeder kennt den Schulversuch, bei dem ein Stein und eine Feder die gleiche Zeit brauchen, um eine luftleere Röhre zu durchfallen. Newtons Antwort darauf: die Schwerkraft zieht am Stein exakt um den passenden Betrag stärker als an der Feder, um die Massenträgheit auszugleichen.
Eine Aufgabe für das „Kopflabor“
Einstein wollte nicht einfach akzeptieren, dass die Schwerkraft ohne erkennbaren Grund so demokratisch gegenüber unterschiedlichen Massen agiert. Er suchte nach einer Erklärung. Für den Einstein-Biographen Jürgen Neffe beherzigte das Genie die hohe Kunst der Wissenschaft, da er die ungeprüfte Voraussetzung nicht einfach hinnahm. Um einen Ansatz zu finden, benutzte Einstein eine seiner Kernkompetenzen: sein „Kopflabor“, wie es Neffe nennt. Das Talent also, Experimente im Gedanken durchzuführen. Er stellte sich einen frei fallenden Aufzug vor. Ein Insasse würde den Fall gar nicht wahrnehmen, er würde frei in der Kabine schweben, abgeschirmt vom Gegenwind. Zieht er das Portemonnaie aus der Hosentasche und lässt es los, wird es einfach neben ihm her schweben. Klar, denn alle Gegenstände – Aufzug, Insasse und Geldbeutel – fallen ja gleich schnell.
Das klingt trivial, doch durch seine ungewöhnliche Betrachtungsweise erkannte Einstein: Nimmt man die Perspektive von jemand ein, den die Schwerkraft beschleunigt, verschwindet die Wirkung der Schwerkraft – man wird schwerelos. Das Umgekehrte gilt ebenfalls. Bringt man die Kabine ins All, weitab jedes Planeten oder Sterns, wo es keine Schwerkraft gibt, und zieht man sie immer schneller nach oben, wird der Insasse einen Andruck auf den Boden spüren, die sich exakt anfühlt wie die Schwerkraft. Einstein schloss: Schwerkraft und Beschleunigung sind dasselbe.
Er ging noch einen Schritt weiter: Das Prinzip der Äquivalenz von Schwerkraft und Beschleunigung gilt nicht nur für feste Gegenstände, sondern für alles Physikalische, insbesondere auch für Lichtstrahlen. Während ein Lichtstrahl die Kabine durchquert, bewegt sich diese immer schneller nach oben. Der Stahl wird also nicht genau gegenüber dem Ort, wo er in die Kabine eingetreten ist, auf die Kabinenwand treffen, sondern näher am Boden. Aus Sicht des Insassen beschreibt der Strahl also einen Bogen. Das gleiche wird nach dem Äquivalenzprinzip mit dem Lichtstrahl unter dem Einfluss der Schwerkraft passieren.
Alles rutscht gleich schnell
Das hat eine faszinierende Konsequenz. Schon Jahre zuvor hatte Einstein in seiner Speziellen Relativitätstheorie gefunden, dass nichts schneller von A und B kommt als ein Lichtstrahl. Also ist unter dem Einfluss der Gravitation die kürzeste Linie zwischen A und B eine Krümmung. Somit erkannte das Genie, dass die Gravitation keine Kraft ist, sondern ein geometrischer Effekt: Massen wie die Sonne oder ganze Sternensysteme verformen die Raumzeit wie Bowlingkugeln eine Matratze. Somit ist es auch kein Zufall mehr, dass Massen in einem Schwerefeld gleich schnell fallen: Weil die Krümmung der Raumzeit für alle Massen gleich groß ist, rutschen alle gleich schnell auf der kosmischen Rutschbahn.
Dies in ein mathematisches Formelgerüst zu packen, war eine Herkulesaufgabe. Denn die Gleichungen mussten ihre Form in allen denkbaren Bezugssystemen beibehalten – egal ob relativ zueinander ruhend, sich gleichförmig bewegend, beschleunigt oder gar rotierend. Zudem sollte die neue Theorie nicht im luftleeren Raum schweben, sondern kompatibel mit dem vielfach geprüften, Jahrhunderte alten Gebäude der Physik bleiben. Die nötige Mathematik galt es erst noch zu finden. Das war nicht Einsteins Stärke. Sein Züricher Freund, der Mathematiker Marcel Grossmann, half ihm. In dem jahrelangen Ringen um die Formeln zeigte Einstein, wie sehr er seiner Intuition vertraute, denn 1913 scheiterte ein hart errungenes Ergebnis: Es erklärte die Abweichungen der Merkurbahn nicht. Doch Einstein kämpfte weiter und brachte schließlich die Allgemeine Relativitätstheorie unter Schmerzen zur Welt.
In der Folgezeit bezogen Kosmologen die nun mitspielende Raumzeit in ihre Modelle ein. Sie stießen so auf neue Darsteller im Kosmos wie Schwarze Löcher – unendlich tiefe Einwölbungen der Raumzeit –, den Urknall – der Anfangspunkt eines wachsenden Weltraums – oder die bislang hypothetischen Wurmlöcher, also Tunnel in der Raumzeit. Welches Gespräch über den Kosmos käme ohne diese Stars aus?
Einstein, ein konservativer Revoluzzer
Denker
Einstein nahm ungeprüfte Grundannahmen der damaligen Physik nicht einfach hin. Er dachte unabhängig und agierte selbstbewusst. So entwickelte er die Allgemeine Relativitätstheorie, obwohl ihm der Physikriese Max Planck klar davon abriet.
Intuition
Der eigenwillige Physiker Einstein ließ sich allein von seinem Instinkt und seiner Intuition leiten. Aber er wollte auch nicht einfach Altes hinwegfegen und Neues aufbauen. Er hatte eine durchaus konservative Seite, mochte etwa Bach und lehnte Möbel im Bauhausstil ab. In der Physik ging es ihm vor allem darum, die Unstimmigkeiten zwischen Teilgebieten wie Mechanik und Elektrodynamik aufzulösen. Mit den Relativitätstheorien gelang ihm dies. Als Nebeneffekt warfen sie die alten Weltbilder um.