Jeder Morgen im Villinger Café am Riettor beginnt mit einem Ritual. Um 9 Uhr drückt Rudi Fürst-Maschek auf Start. Klack – der Tonarm schwenkt nach rechts, stoppt, dann senkt sich die Nadel mit leisem Knistern in die Rille. „The Eminem Show“ ist die Platte der Woche. Das Herz des Cafés ist die Kaffeemaschine, der Plattenspieler der Schrittmacher, der die Beats durch den Raum schickt.
Fürst-Maschek hat den Dual-Plattenspieler 1980 im 15 Kilometer entfernten St. Georgen gebaut. In einem Ständer steht eine Auswahl von Vinyl-Scheiben. Die Platten kommen von Soundservice – der kleine Laden ein paar Ecken weiter in der Villinger Innenstadt verkauft auch gebrauchte Plattenspieler, Verstärker und Kassettendecks. Vieles ist von Dual und Saba, den beiden Topmarken von einst – für die Gegend lange Zeit Aushängeschilder wie Kuckucksuhr, Bollenhut und Schinken. Der Stolz einer Region. Zu Boom-Zeiten von Dual wurde auch schon mal ein Flugzeug gechartert, um eilig Plattenspieler in die USA zu verfrachten. „Schwarzwälder Präzision“ – mit diesem Slogan warb die benachbarte Firma Schwarzwälder Apparate-Bau-Anstalt, kurz Saba, für ihre Produkte. Die beiden Global Player Saba und Dual sind untergegangen, ihre Namen aber klingen fort.
Recycling-Höfe sind voller Elektroschrott
Kürzlich hat Fürst-Mascheks Plattenspieler gestreikt. Ein Fall für Andreas Scheibner im fünf Kilometer entfernten Dorf Pfaffenweiler. In seiner Werkstatt stapeln sich alle möglichen in die Jahre gekommenen Geräte. Röhrenfernseher, Kassettenrekorder, Radios, Tonbandgeräte, ein orangenes Wählscheibentelefon aus den 70er Jahren. Läuft nicht mehr? Ab in den Container? Recycling-Höfe sind voller Elektroschrott. Nicht mit Andreas Scheibner: „Ich hab‘ schon immer kaputte Sachen ganz gemacht“, sagt der 53-Jährige.
Am Eingang rechts hängt der Meisterbrief von Johann Scheibner, ausgestellt 1942. Andreas Scheibners Großvater hatte bei Saba Lautsprecher entwickelt, der Rundfunkmechaniker war ein früher „Sabanese“ – so nannte man die Angestellten, die sich als Teil der zu besten Zeiten mehr als 5000 Beschäftigte zählenden Saba-Familie fühlten.
Nach dem Krieg brummt die Branche. Die Identifikation der Saba-Mitarbeiter mit dem Familienbetrieb war immer hoch. Dennoch verlässt Johann Scheibner die Firma und macht sich selbstständig. Sein Sohn Ansgar hilft in der elterlichen Werkstatt mit – so wie später auch der Enkel. „Ich habe von Kindheit an nichts anderes gekannt und war irgendwann infiziert“, sagt Andreas Scheibner. „Für mich war immer klar, dass ich etwas mit Elektronik machen will.“
Hifi-Reparaturen sind sein täglich Brot
Als Jugendlicher bringt Andreas für die Verwandtschaft reparaturbedürftige Geräte wieder zum Laufen. Mit 26 legt er die Meisterprüfung zum Radio- und Fernsehtechniker ab und gründet seine eigene kleine Firma. Hifi-Reparaturen sind sein täglich Brot. Die Kundschaft kommt überwiegend aus dem Stuttgarter Raum und vom Bodensee. Aber auch von weiter her gelangen defekte Geräte in den Schwarzwald, bis nach Hamburg reicht der Kundenkreis.
Unter den Raritäten in der Werkstatt ist auch ein Sabafon TK 75 Tonbandgerät, das Ende der 50er Jahre gebaut wurde. „Das war ein Flaggschiff von Saba“, sagt Scheibner. Neupreis: 1098 D-Mark. „Das konnte sich ein Normalsterblicher damals nicht leisten.“ Laut Statistischem Bundesamt verdiente ein männlicher Arbeitnehmer Anfang der 60er Jahre durchschnittlich 590 D-Mark brutto.
Saba verbuchte gute Gewinne – und verwendete einen Teil davon für soziale Zwecke. 1967 kam der Betriebsrat Dietmar Steinkamp auf die Idee, in Villingen ein Klinikradio zu gründen, wenig später folgte ein weiteres in Schwenningen. Auch der Saba-Betriebskindergarten war damals seiner Zeit weit voraus. Es gab eine Saba-Boxstaffel und eine Saba-Fußball-Prominentenelf.
In den 70er Jahren hängen die Japaner die Schwarzwälder ab
Eine Firmengeschichte mit vielen Höhen – aber dann kam die Pleite. Unternehmerische Fehlentscheidungen, Konkurrenz aus Fernost und die Unfähigkeit, clevere Ideen deutscher Ingenieure rechtzeitig in Serie zu produzieren – das sind einige der Gründe für den Abstieg. In den 70er Jahren hängen die Japaner die Schwarzwälder ab und erobern den europäischen und den US-Markt.
Vor allem bei der Jugend gibt es ein Imageproblem. Saba und Dual stehen dabei stellvertretend für das Schicksal der deutschen Unterhaltungselektronik. Zählte die Branche in den 70er Jahren in der BRD noch 120 000 Beschäftigte, so waren 2019 im vereinigten Deutschland nur noch 8500 Personen in diesem Bereich tätig. Alle Versuche von Saba, sich durch ausländische Partner über Wasser zu halten – etwa mit einer 85-Prozent-Beteiligung des US-Konzerns GTE – zögerten das Ende letztlich nur hinaus.
1980 verkauft GTE nach verlustreichen Jahren Saba an den französischen Konzern Thomson-Brandt. Die Produktion geht ins Ausland. In Villingen-Schwenningen verbleibt nur eine Entwicklungsabteilung. Umstrukturierungen auch bei Dual, die Lichter in St. Georgen gehen 1993 aus – die CD hat die Schallplatte verdrängt, damit bricht das Hauptstandbein von Dual weg. Im Februar 1993 verzeichnet Villingen-Schwenningen die höchste Arbeitslosigkeit im Südwesten.
Die Historische Radiowerkstatt in Villingen
Peter Obergfell ist ein alter Sabanese. Mitte der 60er Jahre lernt er bei Saba Rundfunk- und Fernsehmechaniker, macht später den Meister und bildet Lehrlinge aus. Nach dem Firmenaus steht Obergfell wie so viele andere auf der Straße. Beim Computerhersteller Nixdorf findet er eine neue Anstellung im Außendienst. Das ist lange her. Bis heute aber hat ihn sein ursprünglicher Beruf nicht losgelassen.
Montags geht der 74-Jährige in die Historische Radiowerkstatt der VHS in Villingen. Ein Dutzend Technikbegeisterte treffen sich dort allwöchentlich und werkeln an alten Röhrenradios. Obergfell hatte bei seinem verstorbenen Onkel ein Saba-Radio, Baujahr 1928, entdeckt. Das Gerät funktionierte, doch er musste eine Anodenbatterie aus jener Zeit nachbauen.
Klaus Gerhardt gehört zu jenen Männern der Boomer-Generation, die die alte Technik begeistert. Mit einem defekten Radio kam in die Historische Radiowerkstatt: „Das hatte sich meinen Reparaturversuchen widersetzt.“ Trafo gewickelt, Kondensatoren und Widerstände ausgetauscht – und schon lief das Radio wieder. „Das tut heute noch seinen Dienst“, freut sich Gerhardt. „Der Spaß ist, sich in ein Gerät reinzufuchsen.“
Das digitale verdrängt den UKW-Bereich
Dietmar Luppold ist seit elf Jahren dabei. Sein Vater hörte Reportagen von Fußballspielen auf einem Graetz-Radio. Klein-Didi lauschte mit. „Ich habe immer noch den Klang im Ohr, bis zum heutigen Tag.“ Inzwischen verdrängt das digitale Radio immer mehr den UKW-Bereich. Was macht ein Gerät aus, das manche eher mit der Mottenkiste in Verbindung bringen? „Ein Radio war früher ein Möbelstück“, sagt Luppold. „Es hat einen sehr weichen, warmen, voluminösen Klang. Das gesamte Gehäuse wirkt wie eine Lautsprecherbox.“
Vor drei Jahren rückten auf dem Saba-Areal in Villingen die Bagger an, die Abrissbirne machte die Produktionsgebäude platt und das Areal dem Erdboden gleich. Es entsteht hier nun ein gemischt genutztes Quartier mit Wohnen und Gewerbe. Gerettet wurde nur der blaue Saba-Schriftzug auf dem ehemaligen Firmengebäude – ein Wahrzeichen vergleichbar dem Mercedesstern auf dem Bahnhofsturm in Stuttgart.
Den Kahlschlag überstanden hat auch das MPS-Studio, in dem von Ende der 60er Jahre an Jazz-Größen wie Oscar Peterson, Duke Ellington und Wolfgang Dauner ihre Musik aufnahmen. Das unscheinbare Gebäude von „Musik Produktion Schwarzwald“ liegt versteckt in zweiter Häuserreihe. Im Eingangsbereich gibt es eine kleine Bar mit Schwarz-Weiß-Künstlerporträts an den Wänden. Den Aufnahmeraum dominiert ein Bösendorfer Flügel Grand Imperial, 2,90 Meter lang und 550 Kilogramm schwer. „Es ist ein expressionistisches Klangschiff. Jeder, der darauf spielt, verliebt sich in das Instrument“, sagt Joachim „Töni“ Schifer, Musikverleger, Designer und Mitgründer des Vereins MPS-Studio.
Saba und Dual leben sie fort
Das vom früheren Technischen Geschäftsführer der Saba-Werke, Hans-Georg Brunner-Schwer, gegründete Studio ist wiederbelebt, regelmäßig finden hier Konzerte und auch wieder Aufnahmesessions statt. Dass Insider MPS mit „Most Perfect Sound“ übersetzen, liegt auch an einem Mischpult im Regieraum, das seinesgleichen sucht. Konstruiert wurde das Wunderwerk analoger Technik 1972 von Saba-Ingenieuren. Zwei dieser Mischpulte der Marke Eigenbau wurden gefertigt. Eines für das MPS-Studio und eines für den Südwestfunk in Baden-Baden.
Auf der A 81 von Stuttgart Richtung Singen steht kurz vor Villingen-Schwenningen ein touristisches Hinweisschild: „St. Georgen, Heimat der Phonoindustrie. Deutsches Phonomuseum“. Saba und Dual, die beiden einst so starken Tannen der Schwarzwälder Musikindustrie, wurden längst vom Sturm gefällt. Trotzdem leben sie fort – in der Erinnerung, aber nicht nur dort.