Einweggeschirr in Stuttgart Warum essen so viele to go?
Es wird derzeit viel über Plastikverpackungen diskutiert. Warum essen trotzdem so viele to go? Unsere Autorin hat in der Stuttgarter Innenstadt nach einer Antwort gesucht.
Es wird derzeit viel über Plastikverpackungen diskutiert. Warum essen trotzdem so viele to go? Unsere Autorin hat in der Stuttgarter Innenstadt nach einer Antwort gesucht.
Stuttgart - Manchmal braucht es nicht viel, um seinen Mitmenschen die Laune zu verderben. Eine einfache Frage genügt: Warum? Warum essen Sie ihre Asia-Nudeln aus der To-go-Box mit einer Plastikgabel, statt sich einen Teller und Besteck geben zu lassen? Die Stimmung wird schlagartig frostig, dabei wäre die Antwort so einfach: weil es die anderen doch auch so machen. Weil jeden Tag Hunderte hungrige Mäuler ins Einkaufszentrum Gerber zum Mittagessen strömen und sich beim Hikari-Imbiss gebratenen Reis mit Ente oder bei Ciao Bella nebenan Tortellini in Sahnesoße bestellen. Sie bezahlen, nehmen ihre dampfende To-Go-Box, greifen zum Plastikbesteck – und setzen sich dann zum Essen ganz in Ruhe an einen der Tische.
Seit Monaten wird kaum etwas so viel diskutiert wie das Thema Kunststoffverpackungen. In den Mediatheken der Fernsehsender finden sich Dutzende Dokumentationen mit Titeln wie „Tschüss Plastik“, „Der Plastik-Fluch“ oder „Verpacken ohne Plastik“. Zeitschriften berichten von Menschen, die Plastikdiät machen, und geben Tipps, wie man Haarshampoo oder Wachstücher selbst herstellen kann. Tübingen denkt über eine Plastiksteuer nach, Stuttgart hat ein Pfandsystem für Kaffeebecher eingeführt, so dass der Eindruck entsteht: Dieses Land kämpft an allen Fronten gegen die Plastikflut. Aber wann immer ich durchs Gerber laufe, sitzen dort sehr viele Menschen an den Tischen und stochern mit Plastikgabeln in Pappbechern – obwohl sie ihr Reisgericht von Hikari oder die Pasta von Ciao Bella auch auf Steinguttellern und mit einem Metallbesteck bekommen könnten.
„Wenn man B 7 bestellt, kommt das automatisch in der Box“, erklärt mir ein junger Mann um die dreißig. „Ich hätte auch einen Teller genommen“, sagt er, eigens darum gebeten hätte er jetzt halt nicht. Warum haben er und seine Freundin aber nicht wenigstens richtiges Besteck genommen? Die junge Frau gibt unumwunden zu, sie hätten nicht darüber nachgedacht. „Auf so was schaut man eher nicht.“
Auch wenn das statistisch nicht verbrieft ist – mein Eindruck ist, dass es auffallend viele junge Leute sind, die im Gerber zum Plastik greifen, Schülerinnen und Schüler, die vielleicht sogar bei Fridays for Future mitmarschieren, weil ihnen bang um ihre Zukunft auf dieser Welt ist. Sie essen – angeblich – vegan oder zumindest vegetarisch. Dass ihre coolen Quinoa-Bowls aus dem Pop-up-Store und die Smoothies mit Ingwer-Shot aber in Kunststoffverpackung serviert werden, scheint sie nicht zu sorgen. Das Mädchen, das sich gerade eine Sushi-Box gekauft hat, ist 21. „Ich hab nicht nachgedacht“, sagt sie frank und frei, „ich hab nicht gefrühstückt und jetzt Hunger.“ Das Getränk aber, das sie im Rucksack habe, sei in einer Pfandflasche abgefüllt.
Ist es womöglich eine Altersfrage, ob man zur Metall- oder zur Plastikgabel greift? Nein, meint die 20-jährige Melina. Wenn sie unterwegs esse, dann höchstens eine Brezel oder einen Wrap. „Aber ich achte darauf, dass es wenig Plastik ist.“ Sie schneidet ihr Obst lieber selbst, statt es verzehrfertig im Becher zu kaufen. Kaffee mag sie nicht, und wenn sie einkaufen geht, habe sie immer eine Stofftasche dabei. Ihre Generation, sagt sie, sei durchaus bewusst im Umgang mit Verpackung – bis auf ihre WG-Genossen, die sehr oft bei Lieferando bestellten und sogar Obst und Gemüse verpackt kauften. Deshalb ist der Gelbe Sack auch alle drei, vier Tage voll. „Die schauen null drauf“, sagt Melina, „vor allem die Jungen“ – womit sie junge Männer meint. Sie ist überzeugt, dass es auch ein „Stadt-Land-Ding“ ist – die Städter seien bewusster als die Landbewohner.
Rund 2,8 Milliarden Einwegbecher landen jedes Jahr in Deutschland im Abfall. Allein in Stuttgart sind es täglich etwa 80 000 Stück. Statistisch nicht erfasst ist, wie viele davon direkt im Bäcker oder Restaurant gemütlich im Sitzen getrunken werden – obwohl es Geschirr gäbe. Bei Burger King gehört das sogar zum System: „to go“ steht in großen Lettern über der Eingangstür, aber natürlich sitzen die meisten Kunden am Tisch, essen aus Pappschachteln, trinken Getränke aus Einwegbechern – mit Plastikstrohhalmen.
Bisher sagte man, dass nirgends so viel gelogen wird wie beim Sex. Ich behaupte: Es wird nirgends so viel gelogen wie beim Thema Abfall. Sie kämen jeden Mittag ins Gerber zum Essen, erzählen mir zwei Männer Anfang dreißig. Meistens würden sie Pasta nehmen, sagen sie – und auch heute löffeln sie Nudeln aus der Box. Warum sie nicht Teller und Metallbesteck genommen haben, frage ich. „Weil es keine Teller gibt“, behauptet der eine kühn, um sich dann zu korrigieren: „Wir wollten das Essen eigentlich mitnehmen, aber es war jetzt doch praktischer, hier am Tisch zu essen.“ Die Stimmung unserer kurzen Plauderei wird schnell kühl. Er achte sehr wohl darauf, nicht zu viel Abfall zu produzieren, erklärt der Zweite schließlich pampig. „Aber ich konsumiere sowieso nicht jeden Tag in dieser Form“, sagt er. Am Anfang unseres Gesprächs hatte das noch ganz anders geklungen.
Wen man auch fragt, alle sind davon überzeugt, selbst sehr viel für die Umwelt zu tun – und wahrscheinlich stimmt das irgendwie sogar. „Wir haben in unserem Verein jetzt von Plastik- auf Glasflaschen umgestellt“, erzählt der junge Mann mit der B-7-Box stolz. Die einen greifen im Laden weiterhin zur Plastiktüte, verwenden sie aber noch für ihren Müll. Die anderen halten sich für öko, weil sie im Supermarkt jetzt immer Papiertüten kaufen. Sie hole sich gelegentlich beim Italiener eine Pasta zum Mitnehmen, erzählt mir eine Frau, die Aluschale verwende sie später dann noch als Kuchenform. Sogar der pampige Nudelesser hält sich wahrscheinlich wirklich für einen Müllvermeider. Er esse zwar die Nudeln to go, „aber dafür spare ich ja heute die Obsttüte beim Aldi“.
Im Schüttgut, einem Laden im Stuttgarter Westen, der unverpackte Lebensmittel verkauft, machen sich die aktuellen Diskussionen über Verpackungsmüll und Mikroplastik zahlenmäßig in jedem Fall nicht bemerkbar. Claudia Wedlich ist aber sicher, dass in den nächsten Wochen wieder mehr Kunden kommen werden – wegen des Plastikfastens. „Süßigkeiten oder Alkohol sind für viele langweilig“, sagt sie, deshalb würden viele in der Fastenzeit auf Plastik verzichten.
Das klingt doch schon mal hoffnungsvoll. Auch in Harry’s Kaffeerösterei in der Eberhardstraße werden die Pfandbecher, die die Stadt Stuttgart eingeführt hat, recht gut angenommen, erzählt Harry Rahm. Wobei das System nicht ganz rund läuft. Es würden deutlich mehr Becher gekauft als zurückgegeben. Vermutlich stehen sie in Büros und heimischen Küchen herum. Offensichtlich hat die Generation to go verlernt vorauszudenken. Oder sie will es nicht. Sonst würden nicht so viele Menschen ihren Großeinkauf machen, ohne eine eigene Tasche dabei zu haben.
Vielleicht ist Plastikvermeidung ja auch eine Frage der Intelligenz. Das Magazin von Rewe hat kürzlich zur „großen Mülleimer-Diät“ geblasen und Tipps gegeben, die fürchten lassen, dass es noch viel schlechter um diese Welt steht, als man vermutet. „Selber kochen spart Verpackungsmüll“, erfährt man dort. „Getränke erhältst du in wieder verwendbaren Glasflaschen“, und, schlimmer noch: „Waschbare Stofftücher sind eine super Alternative zur Küchenrolle.“ Früher sagte man zu so etwas Geschirrtuch.
Die Diskrepanz zwischen öffentlicher Debatte und Realität scheint in jedem Fall enorm. Die Biosupermarktkette Alnatura verkündet in ihrem Magazin nun regelmäßig Erfolgsmeldungen, etwa dass es das Müsli jetzt ohne Verschlussklipp gebe und die Tüten kürzer seien. Damit spare man vier Tonnen Metall und 16 Hektar Folie. Das klingt grandios – und ist doch Greenwashing, wenn man schaut, wie viele Produkte weiterhin so im Regal stehen, dass auch beim passionierten Öko nach ein paar Tagen der Gelbe Sack voll ist.
350 000 Tonnen Plastik haben die Deutschen 2017 allein mit Speisen und Getränken zum Mitnehmen verbraucht, so die Zahlen des Nabu. Dabei wünschen sich angeblich 84 Prozent der Deutschen mehr Verbote von Einwegplastik, heißt es wiederum im neuen Plastikatlas der Heinrich-Böll-Stiftung. Trotzdem kann man sicher sein: Wenn es bald wieder wärmer wird, werden allen Vorsätzen und Diskussionen zum Trotz die Menschen auch in Stuttgart wieder in Scharen auf die Plätze und in die Parks drängen, um dort zu frühstücken, Mittag zu essen und Kaffee zu trinken. Es werden Junge und Alte sein, Männer wie Frauen, Reiche und Arme, Kluge und nicht so Kluge. Manche werden ihre eigene Vesperdose dabeihaben, einige aus Pfandbechern trinken – und sehr viele werden es so halten, wie sie es gewohnt sind. So selbstverständlich die To-go-Mentalität in diesem Land geworden ist, wird es noch sehr lang dauern, bis sich daran etwas ändert.
So komme ich mir tatsächlich etwas komisch vor, als ich beim Asia-Imbiss stehe und den Verkäufer bitte, mir die Kokossuppe in meinen Glasbehälter zu füllen. Sein Unverständnis ist nicht zu übersehen – und auch nicht die Tatsache, dass ich den Betrieb und die perfekt einstudierten Handgriffe durcheinanderbringe. Ob häufiger Kunden ein Gefäß dabeihätten, frage ich. Nein, sagt er, wieso auch, „wir haben doch Boxen“ – und zeigt auf den hohen Stapel mit Styroporbechern. Er gehört offensichtlich nicht zu jenen, die sich Dokus wie „Tschüss Plastik“ und „Der Plastik-Fluch“ anschauen. Weshalb er mir schließlich meinen Glasbehälter mit der Kokossuppe auf die Theke stellt und eilfertig fragt: „Wollen Sie eine Tüte haben?“