Die Handelsvereine fordern mehr Unterstützung durch die Stadt. Kritisiert wird das Leerstandsmanagement. Die Stadt sieht keine strukturellen Probleme.

Während es im Jahr 2008 nach Angaben der Stadt im Zentrum von Bad Cannstatt eine Gesamtverkaufsfläche von 46 075 Quadratmetern gab, sind es im Jahr 2021 nur noch 27 500 Quadratmeter gewesen. Ein Flächenvergleich sei, so der Stadtsprecher Oliver Hillinger, allerdings nur eingeschränkt möglich, da das abgegrenzte Cannstatter Zentrum 2008 größer gewesen sei. 2008 gab es im Zentrum 192 Einzelhandelsbetriebe und 2021 insgesamt 153 Betriebe. In den Flächenrückgang müsse auch das Aus des Kaufhofs am Wilhelmsplatz gerechnet werden. Die kleineren Ladenflächen seien weitgehend belegt, heißt es.

 

Der Immobilien- und Handelsexperte Thomas Stonjeck von Jones Lang LaSalle (JLL) erklärt, durch Corona sei die Nachfrage nach B- und C-Lagen der Städte gesunken. Somit sei der Einzelhandel auch in Bad Cannstatt eher auf dem Weg zu einer Konsolidierung als zu einer Expansion. „Die neuen Chancen, die sich aber auch hier durch den Weggang von Kaufhäusern ergeben können, sind vielfältig: Sei es, dass sich ein neues Wohnumfeld, neue Nutzungen im Bestand oder ganz neue Wegebeziehungen nach einer Neubebauung ergeben“, so Stonjeck. Eine Chance bestehe insbesondere bei der Versorgung mit Lebensmitteln und kurzfristigen Verbrauchsgütern.

Lebensmittelmarkt als Frequenzbringer gewünscht

Das Kaufhof-Areal soll nach den Vorstellungen der LBBW-Immobilien nicht lange eine Brache bleiben. Von Ende 2024 an will man dort bauen. Auf dem Gelände sollen Büros, Wohnungen und Einzelhandel entstehen. Sowohl die Wirtschaftsförderung als auch der Vorsitzende des Gewerbe- und Handelsvereins (GHV), Achim Barth, würde einen Lebensmittelmarkt für die Cannstatter Altstadt begrüßen. Im Zuge der Neuentwicklung könne eine solch großflächige Nutzung integriert werden. Dies befürworte die Verwaltung ausdrücklich. Die Wirtschaftsförderung unterstützte bei Bedarf die Standortsuche und Ansiedlung neuer Betriebe. In Bad Cannstatt bestehe jedoch ein umfassendes Nahversorgungsangebot.

Einige Läden in der Marktstraße leer oder im Umbruch

Wer durch die Marktstraße geht, dem fällt nicht nur das seit Jahren leer stehende Ratsstüble auf, auch daneben ein ehemaliger leerer Schuhladen, ein Fotogeschäft und weiter oben ein Laden, in dem zuletzt Tattoos angeboten wurden. An der Seelbergstraße hat eine Metzgerei aufgehört. Das Einkaufszentrum Carré gegenüber (2006 eröffnet) ist mit seinen 22 000 Quadratmetern Verkaufsfläche ein Kundenmagnet. Dort ist auch Bewegung. Im September schließt dort ein Sportfachgeschäft. Bald soll ein Bekleidungsdiscounter einziehen. Zudem werden gerade einige Läden umgebaut: Ein Schuhgeschäft, ein Drogeriemarkt und eine Eisdiele.

Stadt schlagt neue Geschäftskonzepte vor

Die Stadt sieht keine Cannstatter Besonderheit. Alle Stadtteilzentren in Stuttgart seien vom Strukturwandel betroffen. Die Wirtschaftsförderung schlägt vor, neue Geschäftskonzepte zu entwickeln – vom reinen Einkaufszentrum zum multifunktionalen Erlebnisstandort. Dabei sollten in die Stadtentwicklung Aspekte wie Gastronomie, Dienstleistungen, Kultur, Wohnen und Aufenthaltsqualität gestärkt werden. Auch appelliert sie, dass Immobilieneigentümer und Geschäftsbetreiber an einem Strang ziehen müssen. „In Cannstatt eröffnen Läden und schließen dann wieder nach relativ kurzer Zeit. Das ist für mich keine natürliche Fluktuation“, sagt Barth. „Wenn Ladenflächen permanent den Mieter wechseln, sehe ich da schon ein strukturelles Problem.“ Das Angebotsspektrum beurteilt er als miserabel. „Ich kann bei einem Bummel durch Cannstatt viele Brillen kaufen, Hörgeräte und Billigwaren für einen Euro.“ Die wenigen verbliebenen alteingesessenen Cannstatter Einzelhändler, wie Juwelier Hoffmann und Spielwaren Glaser könnten das nicht aufwiegen. Barth fordert von der Stadtverwaltung mehr Engagement für den Handel in Bad Cannstatt. Wenig hält er von Machbarkeitsstudien, die die Stadt vorgeschlagen hat. Ihm fehlt, dass beim Parkleitsystem nichts passiert. Es würde Geld für Verschönerungen ausgegeben, aber nichts Substanzielles erreicht. Barth fordert von der Stadt ein Gesamtkonzept für Bad Cannstatt unter Berücksichtigung der demografischen und kulturellen Entwicklung des Stadtbezirks.

Achim Barth: Permanente Mieterwechsel sind keine natürliche Fluktuation.

Vision: Cannstatter Altstadt als Tourismusmagnet

Bad Cannstatt könne nicht mit den anderen 22 Stadtbezirken gleichgesetzt werden, sondern müsse anders behandelt werden. Als größter Stadtbezirk mit 70 000 Einwohnern habe es einen Sonderstatus. Er begründet dies, weil es mit seinen Einrichtungen wie Wilhelma, Mercedes-Museum, VfB, Volksfest über die Region und das Land bekannt sei. Barths Vision ist es, aus der Cannstatter Altstadt einen Tourismusmagnet zu machen. Das bedeute: Die Marktstraße werde per Werbesatzung optisch stimmig gemacht. Sie soll laut Stadt noch dieses Jahr verabschiedet werden.

Barths Vorschlag: Die Eigentümer leisteten ihren Beitrag, indem sie nur an Mieter vermieten, die dem Anforderungsprofil eines Gesamtkonzeptes entsprechen und von der Stadt unterstützt, mietfreie Anlaufzeiten und Staffelmieten anbieten, damit sich die neuen Einzelhändler etablieren können. Die Gastronomie müsse sich ebenfalls anpassen und gefördert werden. „Ein Prozess der sicher einige Jahre benötigt. Aber am Ende wird es ein gutes Geschäftsmodell für alle Beteiligten.“ Barth schließt dabei nicht nur die Marktstraße, auch die Bahnhofstraße, Seelberg und den Bahnhofsvorplatz mit ein. Auch fordert er, dass der Wilhelmsplatz komplett umgestaltet wird und eine Verbindung zum Neckar hergestellt wird. Auch will sich der GHV beim Kaufhof-Areal mit Vorschlägen einbringen.

Dirk Strohm kritisiert fehlendes Leerstandsmanagement der Stadt

Der Vorsitzende des Vereins der Altstadt Bad Cannstatt, Dirk Strohm, findet das Förderprogramm der Stadt für Einzelhändler sehr gut. Versäumnisse bei der Stadt sieht er beim Leerstandsmanagement durch die Wirtschaftsförderung. Da sei nichts passiert. Wenn die Werbesatzung kommt, hofft er darauf, dass sie auch kontrolliert wird. „Bad Cannstatt ist so ein toller Stadtteil, es wäre schade, wenn Geschäfte und Gastronomen nicht überleben.“ Die Einigung beim Kaufhof-Areal begrüßt Strohm: „Es ist erfreulich und wichtig, dass da schnell was passiert.“ Er sieht gerade Bewegung im Stadtteil durch drei bis vier kommende Neueröffnungen.

Wegen des Rilling-Areals in der Neckarvorstadt – die Sektkellerei wird ihre Produktion einstellen – ist die Stadt nach eigenen Angaben im Gespräch mit den Eigentümern.