Der Neckar bietet ein arktisches Bild: Um die Schifffahrt aufrecht zu erhalten, muss ein Eisbrecher den Hafen freiräumen. Den harten Job erledigt ein 57 Jahre altes Motorschiff.

Stuttgart - Die Arktis liegt mitten im Neckartal. Weit und breit alles nur Eis. Die kalte Luft steht. Alles scheint festgefroren, starr und still. Doch jetzt knirscht und kracht es, lange Risse breiten sich auf der riesigen Eisfläche aus. Massive Eisblöcke stehen kurz senkrecht und werden sofort zur Seite geschoben. Das Wasser atmet aus. Ein starker Rumpf pflügt durch das Eisfeld im Neckar.

 

Seit Freitag fährt ein Eisbrecher im Hafen rauf und runter. Es ist das Motorschiff „Stadt Stuttgart“, das sich täglich durch die Arktis kämpft. Und das in Zeiten des Klimawandels. „Wir hatten in den letzten Jahren so warme Sommer, da hat man schon gar nicht mehr gedacht, dass man noch einen Eisbrecher braucht“, sagt der Kapitän Klaus Riegraf. Er lächelt: „Zum Glück ist die Natur unberechenbar.“

Zum ersten Mal seit 2012 ist der Neckar wieder zugefroren – und den Eispanzer gibt er nicht so schnell nicht wieder her. Jeden Tag wächst der Scherbenhaufen auf dem Wasser wieder zu. Ein echtes Kunstwerk: Die geschlossenen Risse bilden ein Muster wie das Fell eines Schneeleoparden. Den Schiffsverkehr im Stuttgarter Hafen erfreut die arktische Wildnis allerdings weniger.

Das Eis rebelliert, der Kapitän steuert gegen

In der Regel können Binnenschiffe eine Eisschicht von zehn bis 13 Zentimeter Dicke, wie sie gerade den Neckar überzieht, durchaus selbst bewältigen. Da sich aber das Wasser in den drei Hafenbecken wenig bewegt, können sich die Frachter nicht ohne Hilfe dem Ufer nähern, erklärt Walter Braun, Leiter des Wasserstraßen- und Schifffahrtsamts (WSA). Daher fährt jetzt die „Stadt Stuttgart“, ein Zweischraubenschiff aus Stahl. Mal ist es Hafenverwaltungsboot, mal Löschboot der Stuttgarter Feuerwehr.

Obwohl es an diesem Tag keine stürmischen Gegenwinde gibt, muss Kapitän Riegraf gegen die Naturkräfte kämpfen. Das Eis rebelliert, es drückt gegen die Flanken, versucht das 46 Tonnen schwere Motorschiff vom Kurs abzubringen. Eben noch steuert das Boot mit seinen zwei Sechs-Zylinder-Dieselmotoren geradeaus, das Ziel scheint genau vor Augen. Doch einige Sekunden später zeigt der Rumpf zur Seite – und Riegraf muss schnell gegensteuern. „Man merkt, was für eine Kraft das Eis hat“, sagt er, als es in der „Stadt Stuttgart“ rumpelt.

Wer an einen Eisbrecher denkt, stellt sich vermutlich nicht unbedingt ein solches Wasserfahrzeug vor: Das Boot ist lediglich 21 Meter lang und 4,74 Meter breit. Sein Baujahr 1960 lässt sich an dem hölzernen Interieur und der nicht gerade modernen lila Polsterung der Sitze ablesen. Doch das Boot ist ein Alleskönner. Es kann nicht nur gegen Eis, sondern auch gegen Feuer kämpfen. Das lassen die roten Hähne eindeutig erkennen. Bis zu 3000 Liter Wasser kann jede der zwei Pumpen liefern. Extreme Kälte und extreme Hitze – beide sind allerdings eine Seltenheit. Ein Brand bei Daimler sei der bisher letzte Einsatz gewesen, sagt Riegraf. Das Motorschiff half den Wehrmännern bei der Wasserversorgung.

Und jetzt darf es wieder zeigen, was es kann, wenn die zwei Motoren mit jeweils 170 Pferdestärken das Eis schneiden. Im Vergleich zum dem, was das Schiff 2012 schon bewältigt hatte, dürfte es jetzt eher ein Kinderspiel sein. Vor fünf Jahren hatte das Eis die maximale Stärke erreicht, die das Boot überhaupt brechen kann: 25 Zentimeter waren es damals. „Ich musste mich wie eine Stichsäge bewegen“, erinnert sich Riegraf. „Am Ende war die Farbe am Rumpf komplett vom Eis weggekratzt.“

Eine erschrockene Entenschar flattert vorbei

In der Regel erledigt der Betriebswirt seine Arbeit beim Stuttgarter Hafen, wo er seit 1992 tätig ist, vom Büro aus. Riegraf ist aber einer der wenigen, die ein Patent – wie man unter Schiffleuten einen Führerschein nennt – für einen Eisbrecher haben. Der Hobbysportbootschiffer hatte es sich zum Spaß zugelegt, als beim Hafen neue Schiffsführer angefragt wurden. Wie viel Vergnügen er an der Gelegenheit hat, das Eisbrecherpatent zu nutzen, ist an dem Funkeln in seinen Augen beim Schiffsteuern gut zu erkennen. Doch es ist auch eine Herausforderung: „Beim Sportboot kann man kurz anhalten“, erklärt Riegraf. „Hier muss man, je nach Tempo, schon 50 Meter vorher bremsen.“

Eine erschrockene Entenschar flattert vorbei. „Sie sitzen immer auf dem Eis“, sagt Riegraf. „Jedes Mal, wenn ich mit dem Eisbrecher komme, frage ich mich, ob sie wegfliegen. Sie tun es immer.“ Genug Zeit dürften die Vögel dafür auf jeden Fall haben: Obwohl das Motorschiff eine Geschwindigkeit von bis zu 23 Kilometer pro Stunde erreichen kann, überschreitet es bei dieser Fahrt kaum die sieben. Im arktischen Eis fühlt sich das aber viel schneller an.