Erst in den dreißiger Jahren hatte man in Deutschland mit der industriellen Fertigung von Speiseeis begonnen, initiiert von den Firmen Langnese und Schöller. Die bunten Farben und kühnen Signets, mit denen die Eisunternehmen auf sich aufmerksam machten, setzten sich in den Kinderköpfen fest, und wo immer eines dieser Fähnchen wehte, geriet die Barschaft der Eltern in Gefahr. Bezirzender Reiz ging schon von den Namen aus: Jopa, Eskimo (mit der eigenwilligen Schiebeeissorte „Paiper“, dem österreichischen Ed-von-Schleck-Pendant), Motta . . . Firmennamen, die mehr waren als seelenlose Markennamen. Und immer wieder gelang und gelingt es den Marketingstrategen, revolutionäre Eissorten auf den Markt zu bringen. In vierzig Jahren, das ist sicher, werden sich Journalisten mit verklärtem Blick an ihr erstes Magnum-Eis erinnern.

 

Meine Eis-am-Stiel-Klassiker heißen Nogger und Capri, das von keiner Marktentwicklung gefährdete Orangenfruchteis, das die von Rudi Schurickes „Capri-Fischern“ besungene Sehnsucht materialisierte. Man zog das Papier ab, und bei der ersten Berührung fror das Eis wie durch ein Wunder einen Augenblick lang an der Zunge fest. So etwas vergisst man nicht, der Schriftsteller Axel Hacke auch nicht: „Es schmeckte schon wirklich sehr nach Orangen, mehr als es heute nach Orangen schmeckt, da bin ich sicher, ich spüre diesen kühlen, intensiven Apfelsinengeschmack noch auf der Zunge, je länger ich an dieses Eis denke.“

Softeis, eine bedenkliche Produktidee

Natürlich gibt es, wenn man junge Kunden an den Kiosk locken will, bisweilen bedenkliche Produktideen. Wie das einst an jeder Fußgängerzonenecke erhältliche Softeis. Schön waren dessen cremige Serpentinen anzusehen, doch Mutters strenger Blick beschwor uns, aus hygienischen Gründen auf diesen Genuss zu verzichten. Auch die Erfindung des Wassereises sei besser verschwiegen, denn dieses Rohrstück gefärbten, sehr künstlich aromatisierten Wassers, das man aus einer Plastikfolie schob, hat mit den Errungenschaften der Eiszivilisation so viel zu tun wie Bubble Tea mit gesunder Ernährung.

Ein Eis zu essen, das ist viel mehr, als sich in sommerlicher Hitze abzukühlen. Manche Hersteller – Amorino zum Beispiel – formen für schlappe 3,50 Euro aus exotischen Ingredienzien eine Kugel, die keine mehr ist, sondern ein zart gespachteltes Rosenblätteretwas. Wem das zu viel des Kunsthandwerks ist, der darf sich beim Eisschlecken erotische Gedanken machen. Slogans wie „Nogger dir einen!“ ließen das deutlich anklingen, und die triumphale Einführung des Magnum-Eises verdankte nicht wenig der Plakatwerbung, die dafür gemacht wurde: leicht laszive, genusssüchtige Frauen, die mit sichtlichem Wohlgefallen den Schokoüberzug des Eisblocks zum Knacken bringen. Ein Schelm, wer Übles dabei denkt. Subtiler drückte Marcel Proust in einer berühmten Szene der „Suche nach der verlorenen Zeit“ das erotische Potenzial des Eisverzehrs aus: „Sie machen auch Himbeerobelisken, die von Zeit zu Zeit in der glühenden Wüste meines Durstes aufragen; ich lasse dann ihren rosigen Granit erst schmelzen, wenn sie schon tief in meine Kehle heruntergeglitten sind und mir größere Labung verschaffen als die schönsten Oasen.“

„Die Geliebte des Gelatiere“ heißt Daniel Zahnos Eiscremeroman

Der aus Basel (wo das liebevoll verpackte Gasparini-Glace herkommt) stammende Schriftsteller Daniel Zahno hat 2009 zu diesem Thema den schönsten Eiscremeroman der Gegenwartsliteratur geschrieben. „Die Geliebte des Gelatiere“ heißt der, mit Alvise, einem jungen Mann, als Helden, der einen seriösen Beruf ergreifen will, der Jugendgeliebten Noemi nachtrauert, sein Talent, sich preiswürdige Eiskreationen auszudenken, entdeckt und in Venedig eine florierende Gelateria eröffnet, während Paolo Conte in rauen Tönen mit „Un gelato al limon“ sein Lebensgefühl in Musik packt.

Als hätte ihm Marcel Proust über die Schulter geschaut und ihm ein paar Madeleines gereicht, zieht Daniel Zahno alle Register, um die nostalgische Kraft des Gefrorenen zu veranschaulichen: „Jetzt aber, als ich das Vanilleeis auf der Zunge spürte und den Geschmack wiedererkannte, wie ich ihn damals geschmeckt hatte, war es, als ob Noemi mit mir auf der Terrasse wäre, als ob sie mit strahlenden Augen und ihrer ganzen Zerbrechlichkeit da säße und mich anblickte.“ Mit einem Mal tut sich die Vergangenheit auf; mit einem Mal fungiert das köstliche Vanilleeis als Sesam-öffne-dich in ein Reich der Glücksgefühle.

Der Süden mitten im Wirtschaftswunderdeutschland

Wer Menschen beobachtet, die an einem Eiscafé innehalten, kurz nach links und rechts schauen und ihren geschäftigen Alltag unterbrechen, um sich eine Kugel Eis zu gönnen, sieht ihnen die diebische Freude an, sich in die Vergangenheit zurückzustehlen, am Nuss- oder Erdbeereis zu lecken und den grandiosen Moment auszukosten, wenn die Zähne erstmals ein Stück der süßen Waffel abbeißen. Ein Eis zu bekommen, das war für viele Kinder der Wirtschaftswunderzeit ein erster Ausflug in den lebensfrohen Süden, und als in den fünfziger Jahren die „Gastarbeiter“ nach Deutschland gelockt wurden, zählten Italiener, die eine Eisdiele aufmachten, zu den beliebtesten. Eine davon – das 1955 in Hamburg eröffnete Café der Familie Giacomel – zog Anfang der neunziger Jahre um, ins Bonner Haus der Geschichte, wo sein grünes Resopal bis heute den Lebensstil einer Generation spiegelt, die mit dem süßen Schmelz von Eiscreme die Vergangenheit vergessen wollte.

Eisdielen (wie die von Enzo Presutti in Heilbronn!) und Milchbars entwickelten sich zu Jugendtreffs. Begleitet von Rita-Pavone- und Adriano-Celentano-Klängen, riskierte man erste Küsse, träumte von Urlaubsreisen und erhielt mit Bananensplit oder Spaghetti-Eis (das vom Mannheimer Dario Fontanella erfunden wurde) einen kalten Vorgeschmack. Schon 1954 präsentierte das Hotel Bergischer Hof, das die deutschen Fußball-Weltmeister um Fritz Walter bekochen durfte, Menüvorschläge, die kraftvoll-militärisch eine Eisbombe „Turek“ bereithielten.

Zu Hause am sonntäglichen Mittagstisch entwickelte sich die Eiskultur pazifistischer und langsamer. Der eher fade, dreifarbige Fürst-Pückler-Quader bescherte uns den Einstieg in eine neue Dessertvielfalt, und als es den Deutschen immer besser ging, scheute Mutter vor extravaganten Kombinationen nicht zurück und beglückte uns mit einer Portion Vanilleeis, die von heißen Himbeeren gekrönt wurde.

Deutsches Speiseeis – Langnese und Schöller waren die ersten

Erst in den dreißiger Jahren hatte man in Deutschland mit der industriellen Fertigung von Speiseeis begonnen, initiiert von den Firmen Langnese und Schöller. Die bunten Farben und kühnen Signets, mit denen die Eisunternehmen auf sich aufmerksam machten, setzten sich in den Kinderköpfen fest, und wo immer eines dieser Fähnchen wehte, geriet die Barschaft der Eltern in Gefahr. Bezirzender Reiz ging schon von den Namen aus: Jopa, Eskimo (mit der eigenwilligen Schiebeeissorte „Paiper“, dem österreichischen Ed-von-Schleck-Pendant), Motta . . . Firmennamen, die mehr waren als seelenlose Markennamen. Und immer wieder gelang und gelingt es den Marketingstrategen, revolutionäre Eissorten auf den Markt zu bringen. In vierzig Jahren, das ist sicher, werden sich Journalisten mit verklärtem Blick an ihr erstes Magnum-Eis erinnern.

Meine Eis-am-Stiel-Klassiker heißen Nogger und Capri, das von keiner Marktentwicklung gefährdete Orangenfruchteis, das die von Rudi Schurickes „Capri-Fischern“ besungene Sehnsucht materialisierte. Man zog das Papier ab, und bei der ersten Berührung fror das Eis wie durch ein Wunder einen Augenblick lang an der Zunge fest. So etwas vergisst man nicht, der Schriftsteller Axel Hacke auch nicht: „Es schmeckte schon wirklich sehr nach Orangen, mehr als es heute nach Orangen schmeckt, da bin ich sicher, ich spüre diesen kühlen, intensiven Apfelsinengeschmack noch auf der Zunge, je länger ich an dieses Eis denke.“

Softeis, eine bedenkliche Produktidee

Natürlich gibt es, wenn man junge Kunden an den Kiosk locken will, bisweilen bedenkliche Produktideen. Wie das einst an jeder Fußgängerzonenecke erhältliche Softeis. Schön waren dessen cremige Serpentinen anzusehen, doch Mutters strenger Blick beschwor uns, aus hygienischen Gründen auf diesen Genuss zu verzichten. Auch die Erfindung des Wassereises sei besser verschwiegen, denn dieses Rohrstück gefärbten, sehr künstlich aromatisierten Wassers, das man aus einer Plastikfolie schob, hat mit den Errungenschaften der Eiszivilisation so viel zu tun wie Bubble Tea mit gesunder Ernährung.

Ein Eis zu essen, das ist viel mehr, als sich in sommerlicher Hitze abzukühlen. Manche Hersteller – Amorino zum Beispiel – formen für schlappe 3,50 Euro aus exotischen Ingredienzien eine Kugel, die keine mehr ist, sondern ein zart gespachteltes Rosenblätteretwas. Wem das zu viel des Kunsthandwerks ist, der darf sich beim Eisschlecken erotische Gedanken machen. Slogans wie „Nogger dir einen!“ ließen das deutlich anklingen, und die triumphale Einführung des Magnum-Eises verdankte nicht wenig der Plakatwerbung, die dafür gemacht wurde: leicht laszive, genusssüchtige Frauen, die mit sichtlichem Wohlgefallen den Schokoüberzug des Eisblocks zum Knacken bringen. Ein Schelm, wer Übles dabei denkt. Subtiler drückte Marcel Proust in einer berühmten Szene der „Suche nach der verlorenen Zeit“ das erotische Potenzial des Eisverzehrs aus: „Sie machen auch Himbeerobelisken, die von Zeit zu Zeit in der glühenden Wüste meines Durstes aufragen; ich lasse dann ihren rosigen Granit erst schmelzen, wenn sie schon tief in meine Kehle heruntergeglitten sind und mir größere Labung verschaffen als die schönsten Oasen.“

Málaga-Eis – Danke, Señor Prudente Dimas Mira!

Ob Magnum-Eis oder Himbeerobelisken – ich bleibe dem Málaga-Eis treu und schere mich nicht darum, dass ich damit nicht im Trend liege. Immerhin erzählen mir einschlägige Internetseiten, dass „Freunde“ dieser Eissorte „nichts dem Zufall“ überlassen, „sehr gewissenhaft“ agieren und in der Lage sind, „viel Charme“ zu entwickeln. Na also, denke ich mir und werde die nächste Kugel Málaga-Eis noch andächtiger vertilgen. Wem ich dafür zu danken habe, scheint seit einiger Zeit geklärt.

Denn die Journalistin Nika Scheidemantel hat wahre Pionierarbeit geleistet und sich nach Málaga aufgemacht, um den Erfinder der Wohltat aufzuspüren. Und siehe da, sie wurde fündig und entlockte Señor Prudente Dimas Mira, dem Betreiber der seit 1890 von seiner Familie betriebenen Heladeria Mira, das Geheimnis, dass er sich in jungen Jahren die Geschmacksrichtung Málaga ausgedacht habe – aus naheliegendem Grund: „Ach, mir schmeckten die Rosinen schon immer sehr gut, und gegen ein Gläschen Málaga-Wein habe ich auch nichts einzuwenden.“

Ich glaube Frau Scheidemantel und Herrn Mira sofort, erleichtert, endlich zu wissen, wem ich Dank dafür schulde, regelmäßig an das Freibad Neckarhalde und seinen Respekt einflößenden Zehnmeterturm zurückdenken zu dürfen.

Unser Autor Rainer Moritz

Dass Rainer Moritz sich vom Eisgeschmack an seine Kindheit erinnern lässt, kommt nicht von ungefähr: Der Leiter des Hamburger Literaturhauses ist seit Langem führend in der deutschen Marcel-Proust-Gesellschaft engagiert, vor vier Jahren erschien sein Buch „Ich Wirtschaftswunderkind“. Nach zahlreichen Sachbüchern über Fußball, Schlager und Literatur und seiner Trilogie um die Pariser Buchhändlerin Madame Cottard legt Rainer Moritz in diesem Sommer einen weiteren Roman vor: Am 20. August kommt „Sophie fährt in die Berge“ heraus (Piper Verlag).