Mathias Niederberger hat endlich den Code geknackt, wie man ein außergewöhnlich starker Eishockey-Torhüter wird – das möchte er nun im WM-Halbfinale gegen Finnland an diesem Samstag beweisen.

Sport: Jürgen Kemmner (jük)

Stuttgart/Riga - Matthis nannten sie ihn zu Hause im Rheinland bei der Düsseldorfer EG, in Bayern beim EHC München riefen sie in kurz und knapp Hias, seit er bei den Eisbären Berlin im Tor steht, lautet sein Spitzname Matze – und bei der Eishockey-WM in Riga ist Mathias Niederberger nun die „Krake von Riga“. Zumindest im Fernsehen, dort wird Rick Goldmann, der Ex-Profi und Sport-1-Experte, nicht müde, den deutschen Nationaltorhüter so zu bezeichnen, weil der nicht nur zwei Beine und Arme zu haben scheint, um die Scheiben aus seinem Tor fernzuhalten. Sondern fast schon unzählig viele Tentakeln.

 

Gegen die Schweiz am Donnerstag im Viertelfinale (3:2 n. P.) hielt der deutsche Goalie in den 60 Minuten plus zehn Minuten Verlängerung alles, was zu halten war, im Penalty-Duell ließ er lediglich einen Treffer zu und avancierte mit Marcel Noebels zum entscheidenden Spieler der dramatischen Partie. An diesem Samstag (17.15 Uhr/Sport 1) im Halbfinale gegen Titelverteidiger Finnland wäre es ziemlich erfreulich, würde Mathias Niederberger dort weitermachen, wo er gegen die Eidgenossen aufgehört hat. Toni Söderholm ist überzeugt davon. „Mathias hat eine überragende Saison gespielt“, sagte der Bundestrainer, „er hat die Eisbären zum Meistertitel geführt – das hat ihm viel Selbstvertrauen gegeben. Er strahlt ein hohes Level in Konzentration und Reaktionsschnelligkeit aus.“

Lesen Sie hier: So feierten die Eisbären den DEL-Titel

Der Hochgelobte ist sich bewusst, dass er leistungsmäßig zugelegt hat. Mental und in seinen Paraden im Torraum. „Ich habe den Code jetzt geknackt“, sagt der 28 Jahre alte Sohn des Ex-Profis Andreas Niederberger, „jetzt weiß ich, wie es geht.“ Nun ist es nicht so, dass Niederberger junior vor einigen Monaten noch einer gewesen wäre, der die Scheibe nur aus purem Zufall gefangen hat, bei der WM 2019 gehörte er bereits zu den Top drei auf seiner Position. In der Slowakei etablierte er sich als Nummer eins und widerlegte Skeptiker, die seine Kollegen Dennis Endras und Olympia-Held Danny aus den Birken vor ihm gesehen hatten. Und deshalb trauerte vor dieser WM niemand Philipp Grubauer nach, der in der NHL mit den Colorado Avalanche eine grandiose Saison aufs Eis hinlegt. Doch es brauchte anscheinend gerade diese Meisterschaft mit den Eisbären samt der Auszeichnung „Goalie des Jahres“ der Deutschen Eishockey-Liga (DEL), dass bei Mathias Niederberger der Knoten endgültig geplatzt ist – rechtzeitig zur WM 2021. Seitdem gilt er nicht nur als starker DEL-Goalie, sonders als ein über die Maßen hervorragender.

Bei der WM sind die Schüsse härter

Die Leistungssteigerung des gebürtigen Düsseldorfers war ein Verdienst der Eisbären, wo sich in Sebastian Elwing erstmals ein Torwarttrainer in Vollzeit um die Goalies kümmerte. Beide haben an vielen Kleinigkeiten gearbeitet, um sein Spiel auf ein konstant hohes Niveau zu heben. Intensiv und aufopferungsvoll. Niederberger kann nun die Scheibe noch besser mit den Augen verfolgen, ist aktiver, wenn ein Schuss aufs Tor zurast. Das ist in den Länderspielen wichtig, weil dort gegen die Topteams das Tempo weitaus höher ist als in der DEL. „Die Schüsse kommen noch genauer und härter“, beschreibt Niederberger die Herausforderung, „da muss man gerade im Kopf noch flexibler sein.“ In der WM-Statistik liegt der deutsche mit einer Quote gehalter Schüsse von 93,42 Prozent auf Rang fünf. Es führt Cal Petersen (USA) mit 96,06 Prozent.

Lesen Sie hier: So holte Deutschland Olympia-Silber

Ein herausragender Mann im Tor gibt dem Team Sicherheit, doch die deutsche Mannschaft hat noch einen weiteren Trumpf: den internen Zusammenhalt. „Diese Mannschaft ist unglaublich. Es ist genauso wie bei den Olympischen Spielen. Ich spüre denselben Geist in der Kabine wie damals“, sagt NHL-Stürmer Dominik Kahun, der nach dem Aus seines Teams Edmonton Oilers nachgerückt war. Und vor zwei Jahren marschierte die Truppe bis ins Olympia-Finale, um erst dort unglücklich gegen Rekordweltmeister Russland 3:4 nach Verlängerung zu verlieren. Der Geist von Pyeongchang zieht wieder durch die Kabine, auch Spieler wie Niederberger, die in Südkorea fehlten, saugen ihn in sich auf. Wäre die WM ein Film, müsste der Titel lauten: Pyeongchang Reloaded.

Früher waren deutsche Cracks mit dem Erreichen der Runde der letzten acht zufrieden. Als der Bundestrainer Kapitän Moritz Müller nach dem 2:1 über Lettland und dem Einzug ins Viertelfinale gratulierte, war Söderholm baff. „Er hat mir in die Augen geschaut und gesagt: Das reicht nicht“, erzählt Söderholm. Die Mannschaft setzte die Worte gegen die Schweiz (mit etwas Glück) in die Tat um. Franz Reindl, während dessen Präsidentschaft es beim Deutschen Eishockey-Bund (DEB) sportlich, strukturell und finanziell bergauf geht, fühlt sich fürstlich beschenkt. „Ich bin total überwältigt“, sagt der 66 Jahre alte Verbandschef, dem Charakter und Wille der Mannschaft „tief ins Herz gehen“. Reindl hatte vor der WM davon gesprochen, dass es für den Erfolg entscheidend sei, wie das Puzzle des Teams aus den Einzelspielern zusammengesetzt werde. Söderholm hat bewiesen, dass er ein Puzzlegroßmeister ist, und das Teil namens Mathias Niederberger ist ein wichtiges Stück, das das gesamte Werk zusammenhält. Vielleicht auch im Halbfinale gegen Finnland. Hat eigentlich jemand mal nachgefragt, ob in den Gewässern vor Riga tatsächlich Kraken leben?