In Baden-Württembergs Gerichten soll es Akten aus Papier in einigen Jahren nicht mehr geben. Doch die Innovation birgt auch Gefahren.

Triberg - Die Klage wird dem Gericht vom Anwalt elektronisch geschickt. Das Datenverarbeitungssystem legt eine elektronische Akte an, weist sie ohne menschliches Zutun einem Richter zu, speichert auf Datenbanken im Hintergrund die Metainformationen, die Adressen und Kontaktdaten der Verfahrensbeteiligten beispielsweise. Der Richter kann schon Minuten später aus seinem elektronischen Kalender heraus per Videotelefonie mit dem Anwalt Termine vereinbaren.

 

Es gibt in diesem Prozess kein Papier mehr. Die Formulare werden am Bildschirm ausgefüllt und elektronisch versandt. Der Richter studiert die in einem Zentralrechner hinterlegten Akten auf einem Lesegerät, bei gutem Wetter gern am Baggersee. Die Zeugenvernehmungen während der Hauptverhandlung finden per Videokonferenz statt, womöglich aber auch die Verhandlung selbst. Sein Urteil spricht der Richter auf einen Speicherchip, die Elektronik überträgt das gesprochene Wort in Schriftform. Der Richter kann sich bei seinem Urteil aber auch der Textbausteine einer juristischen Datenbank bedienen und sämtliche Zahlen, beispielsweise Unterhaltsbeiträge bei einem Scheidungsverfahren, automatisch berechnen lassen. Sein Urteil wird elektronisch signiert, zugestellt und im Internet veröffentlicht.

Revolution im Stillen

So könnte Baden-Württembergs neue Justiz in zehn Jahren arbeiten. So soll sie arbeiten, wenn es nach dem Willen ihrer führenden Repräsentanten geht, die sich in Triberg zum traditionellen Symposium versammelt haben, in diesem Jahr unter dem Thema "e-volution. Der Weg zum virtuellen Gericht?". Die großen Revolutionen finden inzwischen im Stillen statt. Das Fragezeichen ist überflüssig.

Das meiste, was in Triberg als Vision vorgestellt wurde, ist heute schon technisch machbar, manches wird schon gemacht, zumindest im Modellversuch. Das Finanzgericht erprobt die elektronische Akte. Wirtschaftsabteilungen des Staatsanwaltschaft Stuttgart und Mannheim führen sie als Zweitakten auf freiwilliger Basis. Das "Elektronische Gerichts- und Verwaltungspostfach" existiert, es hakt aber noch. Die Möglichkeit, Zivilklagen elektronisch einzureichen, wird bis jetzt selten genutzt.

Die Jungen gieren nach neuen Möglichkeiten

Jetzt geht es, darüber war man sich in Triberg einig, vor allem darum, die älteren Kollegen zu motivieren. Die gehen irgendwann aber auch in Ruhestand. Die Jungen gieren nach den neuen Möglichkeiten. Das virtuelle Gericht könnte womöglich an einer ganz anderen Ecke scheitern. Die neue Technik ist teuer - und sie rentiert sich erst langfristig. Die Finanzpolitiker aber wollen Geld nur noch für solche Investitionen geben, die kurzfristig Rendite abwerfen.

Das Führungspersonal in der Justiz will die virtuelle Zukunft, sie will sich ihr zumindest nicht entziehen, sondern sie mitgestalten. Aber die Präsidenten und Ministerialen sind nicht blind, sie sehen auch die Gefahren - nicht nur die Gefahr, dass dann ganze Gerichte arbeitslos werden, sobald die EDV eine Systemstörung hat.

Keine Vision, sondern Realität

Die Probleme stecken im Detail. Beispielsweise wenn der Bundesgerichtshofseine Rechtsprechung zum Unterhalt,seine "Dreiteilungsmethode" ändern muss. Dann stimmen die alten Berechnungsprogramme nicht mehr. Und fünf Experten kommen, wenn sie nach dem neuen Recht rechnen, zu fünf verschiedenen Ergebnissen. Aber nur einer dieser Experten programmiert das marktführende Berechnungsprogramm neu. Faktisch entscheidet dann der Programmierer, wie Richter urteilen. Das ist keine Vision, das ist Realität.

Wer entscheidet, welche Programme angeschafft werden? Welcher Richter überwindet seine Bequemlichkeit, wenn es darum geht, noch eigenständig zu argumentieren, statt einen vorgefertigten Textbaustein anzuklicken? Wer rechnet im Alltag nach, ob die Maschine die Besonderheiten des Einzelfalls eingerechnet hat?

Kein Anspruch auf Papierform

Die Querulanten sind bereits ruhiggestellt. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass ein Richter keinen Anspruch auf eine Akte in Papierform hat. Die elektronische Akte beeinträchtige seine richterliche Unabhängigkeit nicht.

"Insgesamt wird die Informationstechnik der Justiz in Zukunft die Möglichkeit bieten, nicht nur anders, sondern auch besser zu arbeiten als je zuvor", sagte Baden-Württembergs Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) in Triberg.