Liebe, Camorra, Korruption: Mit der „Geschichte des verlorenen Kindes“ liegt nun auch der letzte Band von Elena Ferrantes neapolitanischer Familiensaga auf deutsch vor. Ein fantastisches Zeitpanorama auf dunklem Grund.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Neapel - Sicher, inzwischen mag es für manche vornehme Kenner und Liebhaberinnen auch zum guten Ton gehören, beim Namen Elena Ferrante ein reserviertes Gesicht aufzusetzen. Mit jedem weiteren Band, mit dem der vierteilige Zyklus endlich auch für deutsche Leser dank der übersetzerischen Herkulestat von Karen Krieger zu einer einprägsamen Erfahrung zu werden begann, mehrten sich Stimmen, die offenbar schon allein den Erfolg für eine Entzauberung des Versprechens guter Literatur halten. Schlaumeier, die ein Fädchen hochhalten und nun eifrig vorgeben, sie wüssten um die Masche. Aber dieser Roman ist alles andere als einfach gestrickt. „Ich schreibe schon zu lange und bin müde, es wird immer schwerer, im Chaos der Jahre, der kleinen und großen Ereignisse und auch der Launen den roten Faden nicht zu verlieren“, klagt seine Erzählerin Elena Greco zu Beginn des jetzt erscheinenden abschließenden Bandes, „Der Geschichte des verlorenen Kindes“.

 

Doch wenn man einen Begriff von der Eigenart dieses Werks bekommen möchte, hält man am besten erst einmal fest, welche in der Tat gewaltigen Widersprüche und Unvereinbarkeiten es überbrückt. Zu würdigen ist eine Romanserie, die die Nachkriegsgeschichte aus konsequent weiblicher Perspektive erzählt, von Männern jedoch mit der gleichen identifikatorischen Gier verschlungen wird; eine regionale Milieustudie von der Triftigkeit einer modernen Universalgeschichte; ein Italien-Roman, der sämtliche lieb gewonnnen Neapel-Perspektiven in giftige Schwarz-Weiß-Aufnahmen einer verfallenden Welt verwandelt; ein Leseereignis, so süffig wie die von allen Widerstände bereinigten Gefälligkeiten der Unterhaltungsindustrie, das gleichzeitig aber vor ungeschönten Zumutungen, Brutalitäten, Desillusionierungen nur so strotzt.

Zwischen Startup und Feminismus

Zu Beginn des ganzen Zyklus haben die beiden Freundinnen Lina und Elena ihre Puppen in den dunklen Kellerschacht des bedrohlichen Don Achille geworfen, in dem sich das Unheil des Viertels, des sogenannten Rione, zusammenzieht. Im vierten Band trifft man die ambivalenzgrundierte Schicksalsgemeinschaft der mittlerweile auf die vierzig zugehenden Frauen wieder. Beide sind schwanger, Lina mit ihrem zweiten, Elena mit ihrem dritten Kind, dem ersten von ihrer lebenslangen Liebe Nino Sarratore, dessentwegen sie aus ihrer Ehe mit einem intellektuellen Langweiler aus bestem Haus ausgebrochen ist.

Hinter ihnen liegen turbulente Jahre der Selbstbehauptung, während derer es Lina geschafft hat, im Rione eine Art EDV-Startup zu gründen. Wogegen Elena mit ihren ersten Büchern zu einer der wichtigen Stimmen des feministischen Italiens geworden ist. Doch ihr befreiendes Schreiben muss sie mit ihrer Mutterrolle vereinbaren, mit permanenten Schuldgefühlen, der Angewiesenheit auf die Gunst anderer. Kontrafaktischer zu ihren emanzipatorischen Anliegen als diese Lebenssituation ist lediglich ihre Rolle als Geliebte eines Mannes, der nicht einmal ansatzweise daran denkt, seine karrierefördernde Ehe ihretwillen aufzugeben, der sie sich stattdessen als Mätresse hält, um sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach Strich und Faden zu hintergehen.

Diese geschmeidige Unzuverlässigkeit prädestiniert ihn zu jenem Politikertypus. der das Land in die Geiselhaft seiner männlichen Geltungssucht genommen hat. Während im Untergrund die mafiösen Verbindungen der Solara-Brüder immer weitere Teile der Stadt unterwandern und mit Drogen verpesten, schanzt sich auch die ehrenwerte Gesellschaft der linken Bildungselite über intellektuelle Netzwerke untereinander Gefälligkeiten und Empfehlungen zu. Und manches, was ganz links begann, endet ganz rechts.

In den Bastionen der Aufklärung herrscht patriarchaler Muff

Noch in den Bastionen der Aufklärung herrscht patriarchaler Muff – so wie es zur bitteren Komik des literarischen Befreiungsschlags der schreibenden Heldin gehört, dass sie ihn unternimmt, um damit einem Mann zu imponieren. Die über 2200 Seiten des Zyklus mit seinen mehr als fünfzig Figuren bewegen einen Kosmos aus Liebe, Korruption, Camorra, Terrorismus. „Neapel war die europäische Metropole, in der sich das Vertrauen in Technik und Wissenschaft , in den wirtschaftlichen Fortschritt, in die Gunst der Natur, in die Geschichte, die sich zwangsläufig zum Besseren entwickelt, und in die Demokratie mit größter Deutlichkeit und schon sehr früh als vollkommen haltlos erwiesen hatte“, notiert Elena einmal. Hier geboren zu sein ist nur für eines gut: den Traum vom grenzenlosen Fortschritt als Albtraum voller Grausamkeiten und Tod durchschauen zu können. So viel heitere Italianità muss sein.

Elena Ferrante fasst dieses überbordende Tableau in eine einfache, schlichte Sprache, die sich den Dialogen, Situationen, und sozialen Gefällen mit einer eigenen spröden Klarheit anpasst. Die ideologiekritische Empfindlichkeit dieses vom emanzipatorischen Kampf geprägten Schreibens macht es gegen das Verdikt immun, literarischer Realismus sei weniger ein Stilmittel denn ein marktförmiger Aggregatzustand der Literatur. In den sechs Jahrzehnten italienischer Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, während derer der Kapitalismus die alten Kämpfe zwischen Faschisten und Kommunisten schließlich im Berlusconismus erstickt, vollzieht Ferrante mit literarischen Mitteln nach, wie sich Ideologien aus den Verhältnissen herausentwickeln und wieder in sie zurückfallen.

Anschreiben gegen die Brüchigkeit der Welt

Ideologien sind Formen der Komplexitätsbewältigung, Versuche, im gärenden Chaos der Welt Ordnung zu schaffen. Doch mitten in diesem Buch bricht die Welt auseinander. Es ist das große Erdbeben von 1980, das die Stadt erschüttert. „Es löschte die Gewöhnung an Beständigkeit und Stabilität aus, die Gewissheit, dass jeder Augenblick genauso sein würde wie der vorhergehende, die Vertrautheit von Geräuschen und Gesten, ihre unzweifelhafte Erkennbarkeit.“

Gegen die Brüchigkeit der Welt anzuschreiben, ist der zentrale Antrieb dieses Lebensbuches. Die Autorschaft, bis zuletzt immer in Rivalität zu der genialen Freundin, besetzt die in der Realität vakante Position einer Ordnungsmacht. Sie kann die Schicksale nicht zum Besseren wenden, wohl jedoch verhindern, dass sie auf ewig in dem finsteren Abgrund verschwinden wie die Puppen der kleinen Mädchen. Und so ist die zentrale Geschichte unter den vielen, die hier erzählt werden, jene von der Entstehung eines großen Romans. Mag die Erde noch so beben – die Weltliteratur ist um einen Kontinent reicher geworden.

Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Kindes. Roman. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp Verlag. 615 Seiten, 25 Euro. https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.elena-ferrantes-freundinnen-saga-sex-crime-cliffhanger.3f198bdf-452b-4d37-a372-3b3024ea5cf0.html https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.elena-ferrantes-roman-meine-geniale-freundin-kleines-welttheater-vor-grosser-kulisse.22e01b50-e3ea-48d1-93c0-d0d22c9a6ce9.html https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.elena-ferrantes-roman-die-geschichte-eines-neuen-namens-gespenster-der-vergangenheit.8ed1d828-3f98-4fe2-a515-2818b72f24d9.html