Das Fenster in Leon Kappes’ Zimmer bietet einen schönen Blick auf den Wald. Dicht reihen sich dort die Bäume aneinander. Fast so dicht wie die dicken Gitterstäbe, die vor dem Fenster prangen. Wandert der Blick zwischen den Streben nach unten, wird klar, wie hoch das Fenster liegt. Es befindet sich im Dachgeschoss des Hauses in Leonberg-Warmbronn, etwa sieben Meter trennen es vom Boden.
Das Gitter ist dort oben nicht ohne Grund angebracht: Vor viereinhalb Jahren ist Leon aus diesem Fenster in die Tiefe gestürzt. Der Raum auf der anderen Seite der Streben ähnelt heute einem Krankenhauszimmer. Zwischen den grün gestrichenen Wänden steht ein großes Pflegebett, daneben zwei Rollstühle und ein Regal voller medizinischer Geräte: eine Nahrungspumpe, ein Pulsoxymeter, eine Absaugpumpe. Auf all das ist Leon seit dem Sturz angewiesen.
Schweres Schädel-Hirn-Trauma
Ihr kleiner Bruder Leon ist für Angelika Fitz ein Superheld, ein echter Kämpfer. Sie sage ihm immer wieder, dass er überlebt habe und stark sei, erzählt sie. In der Küche neben seinem Zimmer rührt die 26-Jährige mit geübten Bewegungen Leons Spezialnahrung an, der Elfjährige sitzt neben ihr in einem seiner Rollstühle. Er wird hauptsächlich über eine Magensonde ernährt. Bei seinem Sturz hat Leon ein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten, kann seitdem weder sprechen noch sich selbstständig bewegen. Ihr Bruder verstehe aber alles, was um ihn herum passiere, ist sich Angelika Fitz sicher.
Die Augen des Jungen mit den kurzen braunen Haaren machen einen wachen Eindruck. Über sie kommuniziert Leon, indem er etwa auf Dinge schaut oder auf Fragen mit einem Blinzeln ein „Ja“ signalisiert. Wenn er etwas unangenehm findet, spannt er seinen Körper an. „Wir versuchen dann zu erraten, was er sagen will“, sagt seine Schwester. „Wir kennen ihn ja, er ist unser Baby.“
Wir – das sind Angelika Fitz, ihr älterer Bruder Christian Jegel und die alleinerziehende Mutter Margarete Kappes. Sie leben gemeinsam in dem Haus am Wald und kümmern sich um Leon. Für seine große Schwester ist das wie für den Rest der Familie eine absolute Selbstverständlichkeit. Die energiegeladene 26-Jährige würde alles für ihren deutlich jüngeren Bruder tun. Seit seiner Geburt verbindet die beiden eine enge Beziehung, er ist ihr Ein und Alles.
Ein Albtraum wird wahr
Leon kommt im Dezember 2012 bereits mit einer körperlichen Beeinträchtigung zur Welt. Ihm fehlt der rechte Unterarm, wohl wegen eines genetischen Fehlers. In den Jahren vor seinem Sturz ist Leon ein lebensfroher Junge, liebt es zu schwimmen, sich zu bewegen und unterwegs zu sein, erinnert sich Angelika Fitz. Die beiden tanzen gerne zusammen oder gehen ins Kino. „Es war selten, dass er mal zu Hause gesessen ist, er brauchte immer Action“, erzählt sie.
Bis zum 21. Februar 2019 – ein Datum, das seine Geschwister und seine Mutter nie vergessen werden. An diesem Tag wird für sie ein Albtraum wahr. Eine Babysitterin holt Leon vom Kindergarten ab und passt zu Hause auf ihn auf. Fitz wohnt zu dieser Zeit in Stuttgart, ihr Bruder ist bei der Arbeit, ihre Mutter auf einem Termin. Wie genau Leon aus dem offenen Fenster gestürzt ist, kann die Familie nicht mit Sicherheit sagen. Er ist gerne von der Fensterbank auf die Couch gesprungen, vielleicht hat er dabei das Gleichgewicht verloren. Abdrücke an seinen Armen, die seine Geschwister und seine Mutter später entdecken, zeigen, dass er sich vermutlich noch am Fenster festgehalten hat im verzweifelten Versuch, nicht zu fallen.
Sieben Stunden qualvollen Wartens
Er stürzt dann aber doch in die Tiefe, kommt auf Styroporplatten auf, die unter dem Fenster liegen und ihn etwas abfedern. Äußerlich scheint Leon nicht schwer verletzt zu sein: Schürfwunden im Gesicht, ein blaues Auge. Aber er ist bewusstlos, als er ins Krankenhaus eingeliefert wird.
Angelika Fitz hört man den Kloß in ihrem Hals deutlich an, wenn sie am Küchentisch von dem Tag erzählt, an dem ihre Welt zusammenbricht. Sie ist beim Unterricht im Zuge ihrer Ausbildung, als sie am Telefon erfährt, dass Leon aus dem Fenster gestürzt sei. Erst realisiert sie nicht, welches Fenster gemeint ist. „Dann habe ich angefangen zu schreien, bin auf den Boden gefallen, mir war schwarz vor Augen.“ Eine Freundin fährt sie zu Leon ins Krankenhaus, Angelika Fitz weint die ganze Fahrt lang.
In der Klinik bangen sie, ihr Bruder, ihre Mutter und deren Partner sieben Stunden lang um Leons Leben. Er muss notoperiert werden, weil sein Hirndruck extrem steigt. Eine Zukunft ohne ihn will sich Angelika Fitz nicht vorstellen, den Gedanken, dass er stirbt, kann sie nicht verkraften. „Für mich war klar, wenn er es nicht schafft, will ich auch nicht mehr leben“, sagt sie. Ihre Mutter fühlte ähnlich: „Als Mama ist es das Schlimmste, das eigene Kind zu verlieren, es gibt nichts Schlimmeres auf der Welt.“
Ein kleines Wunder
Nach der Operation liegt Leon im künstlichen Koma, eine Woche lang ist keine Hirnreaktion erkennbar. Aufgeben kommt für die Familie trotzdem nicht infrage. Sie klammern sich an den Glauben, dass der Junge es irgendwie schaffen wird. „Wir haben das gar nicht an uns rankommen lassen. Das war wie eine Mauer“, sagt Angelika Fitz.
Nach einer Woche passiert ein kleines Wunder: Leon zeigt plötzlich wieder Hirnreaktionen. Noch vier weitere Wochen liegt er auf der Intensivstation im künstlichen Koma. Dann kommt er in eine Rehaklinik, bis er ein Jahr später wieder nach Hause kann.
Anfangs hat Leon ein Tracheostoma, also einen Luftröhrenschnitt, um zu atmen, mittlerweile kann er das wieder ohne Hilfe. Ob er sich an seinen Sturz erinnern kann, weiß niemand. Seine Familie hofft, dass der Schock das traumatische Erlebnis aus seinem Kopf gelöscht hat.
Kräftezehrende Rund-um-die-Uhr-Aufgabe
Sie selbst verfolgt lange die Frage nach dem Warum: Warum gerade Leon? Dass sein Sturz ein Zufall ohne Sinn war, will Angelika Fitz heute nicht glauben. „Er hat das alles auf sich genommen, damit wir als Familie zusammenhalten. Seitdem bringt uns nichts mehr auseinander.“ Fitz und ihr älterer Bruder ziehen nach dem Unfall zurück zu ihrer Mutter, um sie zu unterstützen. Ihr gemeinsames Ziel: Leon helfen. Alles andere steht für sie fortan an zweiter Stelle.
Ihn zu pflegen ist eine kräftezehrende Rund-um-die-Uhr-Aufgabe, die die Familie ohne die Unterstützung eines 24-Stunden-Pflegedienstes nicht stemmen könnte. Man muss den Elfjährigen waschen und wickeln, ihn über die Magensonde füttern. Auch Dinge, die für gesunde Menschen selbstverständlich sind, müssen andere für ihn übernehmen, wie Nase putzen oder kratzen, wenn es ihn irgendwo juckt. Nachts kann Leon nicht allein sein: Alle zwei bis drei Stunden wird er gedreht, erklärt Angelika Fitz. Und sein Kopf darf nicht in ein Kissen geraten, dann könnte er ersticken.
Die Angst, dass ihrem Sohn etwas zustößt, hat Margarete Kappes seit seinem Sturz nicht mehr verlassen. Sie fürchtet sich davor, „dass er sich zum Beispiel verschluckt“. Außerdem sind Leons Verkrampfungen, mit denen er zeigt, dass er sich unwohl fühlt, eine tägliche Herausforderung. „Wir wollen ihn fördern“, sagt Angelika Fitz. „Wenn er dann manchmal nicht mitmachen will, denkt man sich: Leon, jetzt komm schon! Aber man darf ihm das nicht übel nehmen, er kann ja nichts dafür.“
Ein behindertengerechtes Auto wäre hilfreich
In seinem Zimmer hat Leon ein spezielles Stehgerät, das seinen Körper stärken soll. Ein motorbetriebenes Therapiegerät, das den Pedalen eines Fahrrads ähnelt, hält seine Hüfte in Bewegung, zudem übt seine Familie mit ihm, selbstständig zu sitzen. Zweimal die Woche wird Leon zur Therapie gebracht, er macht Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie. Ein Hoffnungsschimmer für die Familie sind die kleinen Fortschritte, die er schon gemacht hat: Das Schlucken klappt mittlerweile besser, und Leon gibt Geräusche von sich, lacht und weint, sagt Angelika Fitz stolz. Außerdem hebe er ein klein wenig die Hand, wenn man ihn umarmt.
Die Familie würde mit ihm auch gerne in eine Spezialklinik nach Zürich gehen, das sei die beste Klinik im Bereich Neurologie, erzählt die Schwester. Doch eine Untersuchung dort koste mehrere Tausend Euro, die Krankenkasse übernehme das nicht. Und auch ein behindertengerechtes Auto – es würde rund 40 000 Euro kosten – müssen sie selbst finanzieren. Dafür sammeln Angelika Fitz, ihr Bruder und ihre Mutter gerade Spenden über die Onlineplattform Gofundme.
Der Blick geht nach vorne
Sie braucht das Fahrzeug, um mit Leon mobil sein zu können. Den Weg zur Therapie und zur Förderschule, in der Leon die dritte Klasse besucht, übernimmt zwar ein Fahrservice, doch seine Mutter und seine Geschwister würden auch gerne Ausflüge mit ihm unternehmen: ins Kino, zu seiner Oma oder in den Zoo – Dinge, die dem Elfjährigen Freude bereiten würden.
Dass er trotz der Therapien und seiner Fortschritte nie mehr so sein wird, wie er einmal war, ist der Familie bewusst. „Klar wünsche ich mir, dass Leon wieder so ist wie früher, aber das ist zu naiv“, sagt Margarete Kappes. Sie und Leons Geschwister hoffen jedoch, dass er eines Tages vielleicht wieder sprechen oder zumindest bewusst auf Dinge zeigen kann, um zu kommunizieren. Angelika Fitz ist fest davon überzeugt, dass ihr Superheld das schaffen kann: „Wir glauben, es wird immer besser und besser.“