Ein Ballettfan ganz nah dran: Die Stuttgarter Autorin Elisabeth Kabatek begleitet die Reid-Anderson-Festwoche beim Stuttgarter Ballett mit einer Kolumne. Am Samstag begegnet sie im Opernhaus in Christian Spucks Lulu einer Frau zwischen frivoler Göttin und Missbrauchsopfer.

Stuttgart - „Sie werden trotzdem einen schönen Abend haben“, verabschiedet Sonia Santiago die aufmerksamen Zuhörer trocken, nachdem sie im Opernhaus in „Lulu“ eingeführt hat, und alle lachen. In der Tat. Die Handlung von „Lulu“, dem großen ersten Handlungsballett von Christian Spuck, klingt mit ihren zahlreichen Toten und zwielichtigen Gestalten eher nach einem Splatter-Movie als nach einem stimmungsvollen Ballettabend. Tatsächlich geht es jedoch um eine Frau, eben jene Lulu, die dem Ballett seinen Namen verliehen hat, eine Figur, die bis zum Schluss schwer zu beschreiben, schwer zu greifen und noch schwerer zu begreifen ist. Sie mordet die Männer, im übertragenen wie im wörtlichen Sinne, und wird am Ende selber ermordet – nein, lustig ist das nicht.

 

Wir schreiben den zweiten Abend der Festwoche für Reid Anderson, und der scheidende Intendant hat sich von seinem ehemaligen Hauschoreografen Christian Spuck zum Abschied eines der ersten Handlungsballette, die er in Auftrag gegeben hat, gewünscht. 2003 wurde „Lulu“ in Stuttgart uraufgeführt und war ein riesiger Erfolg, ein Erfolg, der auch dazu beigetragen hat, dass Christian Spuck mittlerweile selber Ballettdirektor in Zürich ist, und ein sehr erfolgreicher noch dazu. Er hat Reid Anderson seinen Wunsch erfüllt, sechs Wochen mit dem Stuttgarter Ballett gearbeitet und einige Dinge wie Kostüme und Bühne überarbeitet, wie Sonia Santiago berichtet. Am 6. Juni war die Premiere der Neufassung. Die Leute lauschen bei der Einführung so ernsthaft und so konzentriert, als würde der Stoff hinterher abgefragt. Ob es das in anderen Ballett-Städten wohl auch so gibt? Dass das Publikum nicht nur in die Vorstellungen strömt, sondern sich sogar um die Plätze bei der Einführung reißt, schon vor Öffnung der Türen im Foyer ansteht, um nur ja nichts zu verpassen? So sind sie eben, die Stuttgarter Ballettfans!

Viele Momente sind schwer auszuhalten

Ich habe „Lulu“ damals mit Katja Wünsche gesehen und freue mich nun auf Alicia Amatriain in der Hauptrolle. Neben mir sitzen Maggie Foyer von „Dance Europe“ und David Mead, Ballettkritiker des Londoner Online-Magazins „Seeing Dance“. „I love Christian’s work!“, schwärmt Maggie. Sie fängt an, mir von der Londoner Ballettszene zu berichten und von den Ängsten, dass der Brexit die Kulturlandschaft zerstört, aber nun geht das Licht aus und das Ballett beginnt. Es ist ein Ballett, das viele Momente hat, die schwer auszuhalten sind, vor allem, wenn man selber weiblichen Geschlechts ist. Lulu wird herumgeschubst, betatscht und missbraucht, ein Opfer der Männer, manchmal vieler Männer gleichzeitig, sie erscheint hilflos und ausgeliefert, und andererseits inszeniert sie sich und ihren Körper als sei sie eine Göttin, frivol, obszön und selbstbewusst. Sie treibt diejenigen, die sie lieben, in den Wahnsinn, ohne dabei allzu sichtbare Reue zu empfinden. Man kann es kaum in Worte fassen, dieses komplexe Ballett, in dem jeder letztlich versucht, den anderen zu manipulieren. Alicia Amatriain tanzt und verkörpert diese Rolle mit solcher Intensität und Verletzlichkeit, dass es beinahe quälend ist, ihr zuzuschauen.

Bis zum Schluss bleibt Lulu rätselhaft und widersprüchlich. Ihr Ende, die Ermordung durch Jack the Ripper, ist brutal anzuschauen. Es ist wie bei „Romeo und Julia“, man weiß es zwar vorher, aber das macht es nicht besser. „Nicht gerade ein Happy End“, murmelt Maggie Foyer neben mir. „,Romeo und Julia’ war gestern auch kein Happy End vergönnt“, meine ich. „Aber die haben wenigstens vorher ein paar gute Zeiten!“, kontert sie. Ja, das stimmt. So richtig gute Zeiten hat Lulu nicht gehabt. Der Vorhang schließt sich, Applaus brandet auf, dann öffnet er sich wieder, und da steht sie, ganz allein, Alicia Amatriain als Lulu, sichtlich erschöpft, und Bravorufe schallen ihr entgegen. Was für eine Rolle! Was für eine Ausnahme-Tänzerin! Dann folgt die ganze Kompanie, und weiterer tosender Applaus, auch für das Staatsorchester Stuttgart unter James Tuggle, das an diesem Abend grandios die nicht unbedingt einfache Musik von Dmitri Schostakowitsch, Alban Berg und Arnold Schönberg gespielt hat.

Wie Alicia Amatriain sich vorbereitet

Nachdem man sich nun einen ganzen Abend den Kopf über Lulu, diese schwer zu verstehende Frau zerbrochen hat, wird es spannend sein zu hören, wie die, die sich am intensivsten mit ihr auseinandersetzt und diese unfassbar anspruchsvolle Rolle so bravourös meistert, Lulu charakterisiert. „Ich denke, sie ist eine Frau, die im Kopf ein Kind ist, die nicht wirklich weiß, was sie tut. Sie kann gar nicht ohne Männer an ihrer Seite sein, sie braucht Männer, aber sie macht es nicht bewusst“, meint Alicia Amatriain nach der Vorstellung in einer Garderobe hinter der Bühne. Ihre langen blonden Haare sind nicht mehr unter der Pagenkopf-Perücke versteckt, sondern frisch gewaschen. Sie wirkt erstaunlich frisch nach dieser Anstrengung. Und wie ist es, die Körperlichkeit dieser Rolle auszuhalten? Schließlich wird sie ständig angefasst, oft sehr grob, oft sehr intim. Auch, wenn es eine Bühnensituation ist, ist das nicht brutal, selbst für einen Profi?

„Das ist nun mal die Rolle“, meint sie achselzuckend. Gibt es etwas, das ihr hilft, sich vor der Vorstellung mental darauf vorzubereiten? „Ich habe immer die gleiche Routine vor jeder Vorstellung, egal, ob ich Julia oder Lulu tanze“, erklärt Alicia. „Ich bin immer zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn im Theater. Dann mache ich mein Make-Up und meine Haare und dann ein paar Übungen an der Stange, dann gehe ich auf die Bühne und probiere ein bisschen was aus, dann gehe ich wieder zurück hinter die Bühne, das sind so meine Abläufe. Und wenn es dann losgeht, bin ich voll vorbereitet. Ich habe nie Hektik vor einer Vorstellung, ich bin nicht am Rennen. Ich brauche diese Zeit.“

Kein Ende und Anfang – ein Weitergehen

Alicia Amatriain arbeitet nun seit zwanzig Jahren mit Reid Anderson zusammen, eine lange Zeit. „Ich werde alles an ihm vermissen“, sagt sie. „Ich bin mit ihm aufgewachsen, er ist meine ganze Karriere. Aber man muss immer nach vorn gucken! Reid geht uns ja nicht verloren, und wir haben jetzt einen spannenden und überraschenden Anfang mit Tamas Detrich vor uns, und ich bin offen für das, was kommt. Wobei...“, überlegt sie, „es ist ja eigentlich kein Anfang, es ist ein Weitergehen. Genau – das ist kein Ende und kein Anfang, das ist ein Weitergehen.“ Und mit diesen schönen, geradezu poetischen Worten verabschieden wir Alicia, die jetzt endlich ihre Freunde in der Kantine treffen und sich erholen will nach diesem Kraftakt und dieser grandiosen Vorstellung!

Heute Nachmittag geht es schon weiter – um 13 Uhr dreht sich bei der „One-Man-Show“ im Schauspielhaus alles um den Mann, um den sich alles dreht – Reid Anderson, und es gibt sogar noch Karten für Spontanentschlossene. Auf das Gespräch mit ihm freue ich mich besonders! Davor präsentiert Roman Novitzky, der nicht nur ein ausdrucksstarker Tänzer ist, wie er gestern Abend in „Lulu“ wieder einmal bewiesen hat, sondern das Ballett auch fotografisch in Szene setzen kann, um 12 Uhr im Foyer des Schauspielhauses seinen Fotoband „Der tanzende Blick“ (Eintritt frei).