Ein Ballettfan ganz nah dran: Die Stuttgarter Autorin Elisabeth Kabatek begleitet die Reid-Anderson-Festwoche beim Stuttgarter Ballett mit einer Kolumne. Am Montag erlebt sie die Premiere des Ballettabends „Party Pieces“, bei der nicht alles nach Plan läuft.

Stuttgart - Es ist ein Abend der Überraschungen, nicht alle davon sind schön – und trotzdem wird der Abend mit nicht enden wollendem Applaus enden. Doch der Reihe nach...

 

Wer kurz vor sechs am Opernhaus vorbei Richtung Schauspielhaus schlendert, erlebt eine zauberhafte Überraschung. Da sitzen fünf Bläser auf einem Podest und spielen, dass es eine Wonne ist, und davor sitzen ganz viele Zuhörerinnen und Zuhörer und lauschen andächtig, an diesem wunderbaren Sommerabend. Am Tag zuvor hat Reid Anderson die gute Zusammenarbeit mit der Oper gelobt. Es endet ja nicht nur seine Intendanz, sondern auch die von Opernchef Jossi Wieler, der sich mit einer Opernterrasse vor dem Opernhaus verabschiedet. Genügend Publikum gibt es für beides, und nach der Ballettvorstellung wird sich das Ballettpublikum mit dem Opernpublikum im Park vermischen, denn beide Vorstellungen enden nahezu zeitgleich. Was für ein Glück, in einer Stadt zu leben, die so viel Kultur hat, und so viel Publikum, das sich daran freut – glückliches, glückliches Stuttgart, wo man nicht sagen muss, „In dieser Stadt ist kein Platz für uns beide, Cowboy!“ Schön wäre, wenn diese Stadt jetzt mal langsam in die Pötte kommen und eine Interimsspielstätte finden würde...

Wir schreiben Tag vier der Festwoche „A Reid Anderson Celebration“. Wir stehen im Schauspielhaus an der Treppe, es ist kurz vor sieben, und es passiert – nichts. Dabei ist heute Premiere von „Party Pieces“, auf dem Programm stehen zwölf Choreografien aus der Intendanz von Reid Anderson, die er selbst als „Gelegenheitsstücke“ bezeichnet. Es dauert. Endlich ist Einlass und dann steht er selbst auf der Bühne und sorgt erst einmal für schallendes Gelächter, als er das Publikum mit den Worten: „Mein Name ist Reid Anderson und ich bin noch der Intendant des Stuttgarter Balletts“ begrüßt. Ebenfalls für Gelächter sorgt die Information, dass sich der Beginn des Abends deshalb verzögert hat, weil niemand daran gedacht hat, die Feuerwehr zu bestellen. „Das ist uns noch nie passiert!“

Zwei Tänzer fallen aus

Doch dann wird es ein wenig ernster. Zwei Tänzer sind verletzt, der zweite heißt Jason Reilly, und nein, man kann ihn leider nicht kurzfristig ersetzen, was bedeutet, dass sein Solo „Ballet 101“ von Eric Gauthier, auf das sich natürlich alle riesig gefreut haben, ersatzlos gestrichen ist. Das zweite Stück, auf das sich alle riesig gefreut haben, ist das Finale „Mono Lisa“ mit Jason und Alicia Amatriain, ein Stück, auf das sich die beiden wochenlang vorbereitet haben. Jede andere Compagnie hätte vermutlich auch dieses Stück ersatzlos gestrichen. Nicht Stuttgart, nicht Reid Anderson, nicht Alicia Amatriain. Die probt gerade mit Damiano Pettenella im Treppenhaus – ein Stück, das sie seit fünf Jahren nicht getanzt hat, nämlich „Allure“ von Demis Volpi mit Musik von Nina Simone...

Und dann, nachdem Reid Anderson das Publikum in bestem Denglish aufgefordert hat, es möge „enjoyen“, wird endlich getanzt. Und wie getanzt wird! Es gibt zwei emotionale Wiedersehen mit ehemaligen Publikumslieblingen, Marijn Rademaker und Daniel Camargo, die dem Stuttgarter Publikum nichts schuldig bleiben. Es gibt ein atemberaubendes Solo von Elisa Badenes in einer Choreografie, die noch nie in Stuttgart gezeigt worden ist, nämlich „Limelight“ von Katarzyna Kozielska. Friedemann Vogel tanzt „Fancy Goods“ von Marco Goecke, 2009 bei der Gala zu Reid Andersons 60. Geburtstag zum ersten Mal präsentiert. Friedemann setzt jeden Ton des Gesangs von Sarah Vaughan mit seinem Körper um, und der Applaus für ihn ist frenetisch. Nach der Pause darf bei „Are you as big as me?“ erst einmal gelacht werden, bevor dann Hyo-Jung Kang und Martí Fernández Paixà zum Heulen schön den Pas de deux „Arcadia“ von Douglas Lee tanzen. Ganz zum Schluss kommt Alicia, und wenn Reid Anderson es nicht verraten hätte, wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, dass dieses Stück gerade noch im Treppenhaus geprobt worden ist. Denn natürlich ist Alicia perfekt! Dann kommen alle auf die Bühne zurück, und Reid Anderson verteilt Blumensträuße, die so groß sind, dass man die Tänzerinnen dahinter nicht mehr sieht, und es wird geklatscht und geklatscht und geklatscht...

Treffen mit Rolando d’Alesio

Vor der Vorstellung habe ich Ballettmeister Rolando D’Alesio getroffen, der sieben der zwölf (ursprünglich vorgesehen) Stücke des Abends Party Pieces einstudiert hat. Eines davon, „Come neve al sole, hat er selber choreografiert. In dem ungeheuer komischen Stück spielen die beiden roten T-Shirts, die Miriam Kacerova und Roman Novitzky anhaben, beziehungsweise die Dehnbarkeit des Stoffes, eine tragende Rolle.

Reid Anderson hat am Sonntag in seiner One-Man-Show über ihn gesagt, „Er ist einer der besten Ballettmeister, die ich je hatte, er hat Würde und Demut und Vergangenheit.“ Rolando D’Alesio hat hier natürlich als Tänzer begonnen, 1991/92 kam er zum Corps de ballet, im Jahr 2000 wurde er Halbsolist. An welche Rolle erinnert er sich besonders gern? „An den Lenski in ,Onegin’ und an Monsieur Duval, den Vater in ,Die Kameliendame’. Für beide Ballette gilt, da stimmt alles, die Kombination von Musik und Choreografie ist einfach perfekt.“ Wie hat man sich einen typischen Arbeitstag eines Ballettmeisters vorzustellen? „Wir fangen um 10.30 Uhr mit dem Training an, dann kommt die erste Probe, dann eine Pause, dann geht das so weiter bis 18.30 Uhr, aber nicht jeder Tag ist gleich. Ich gebe nicht jeden Tag Training, vielleicht so drei-, viermal die Woche, mal mit den Jungs, mal mit den Mädels. Dann schaue ich mir Videos an, plane, was noch geprobt werden muss – heute beispielsweise habe ich zwischen 10.15 und 14 Uhr zehn verschiedene Ballette geprobt, manche für heute Abend, manche für die Gala. Es ist eine harte Woche, viele Sachen haben wir schon lange nicht mehr gemacht, da muss man auffrischen, außerdem sind manche Leute neu und haben die Sachen noch nie getanzt.“ Hat ihm der Film „Romeo und Julia“ gefallen? – „Es ist schwer für mich, Ballett im Kino zu sehen, mir fehlt da der Duft vom Theater. Ich habe es außerdem lieber, wenn man die Freiheit hat, dahin zu schauen, wo man will. Aber es war schon fantastisch zu sehen, wie Elisa und David getanzt haben.“

Alles nur Übungssache?

„Was mich fasziniert hat, ist diese ungeheure Präzision, die im Film noch mehr rauskam als auf der Bühne. Wie kriegt man so was hin?“

„Das ist einfach Übungssache. Wir gehen erst an das Technische dran, und sobald die Technik stimmt, arbeiten wir am Ausdruck, und dann bringt jeder Ballettmeister sein Gefühl hinein und man arbeitet mit den Tänzern, bis der Ausdruck passt. Wichtig ist auch, dass die Chemie zwischen den beiden Solisten stimmt. Sonst geht gar nichts.“

„Erkennen Sie sofort, ob es eine Tänzerin oder ein Tänzer einmal bis ganz nach oben schafft?“

„Es gibt immer wieder Ausnahmetänzer, man sieht das sofort. Sie sind schnell, sie sind motiviert, sie haben einen Fokus. Reid Anderson hat supergute Augen für so etwas, ich habe nie erlebt, dass er sich geirrt hat. Mit Alicia zum Beispiel habe ich am Anfang noch getanzt, ,The Cage’, da war sie gerade im zweiten Jahr aus der Schule raus, da war ihre ungeheure Beweglichkeit schon offensichtlich. Bei Elisa hat man es auch gleich gemerkt.“ – Sind Tänzer heute anders als vor zwanzig Jahren? „Nein, es läuft nur alles viel schneller, es gibt mehr Vorstellungen, mehr Besetzungen, die müssen sehr fit sein und sehr flexibel.“

„Was ist das Besondere am Stuttgarter Ballett?“

„Da bin ich nicht objektiv!“

„Müssen Sie auch nicht sein.“

„Ich mag alles an Stuttgart! Zum Beispiel auch die Leute, die hinter der Bühne sind, Maske, Kostüme, Technik, Inspizient. Da ist so ein Teamgeist, eine Magie, wegen Cranko, wir tragen das in unserem Herzen und geben das weiter und es scheint zu funktionieren. Wir sind auch nicht so streng wie andere Kompanien, es ist lockerer.“

„Aber es braucht doch sicher einen Haufen Disziplin?“

„Natürlich! Nehmen wir eine Vorstellung wie heute. Am Tag danach fangen die Tänzer wieder an der Stange an, sie fangen wieder bei Null an. Es ist eine kontinuierliche Herausforderung.“

Während Sie dies lesen, sind die Tänzerinnen und Tänzer also wahrscheinlich schon wieder mit dem sympathischen Ballettmeister, dem man den großen Enthusiasmus für seinen Job anmerkt, beim Training an der Stange, oder sie proben für die Gala. Reid Anderson hat übrigens immer noch keine Ahnung, was bei der Gala getanzt wird, und er will es auch auf keinen Fall wissen, sollten Sie ihm also begegnen, verraten Sie bloß nichts, auch wenn es im Festwochen-Programm steht! Am Mittwoch wird Party Pieces übrigens wiederholt, und es gibt sogar noch Restkarten – und wir wünschen Jason Reilly gute Besserung und hoffen, dass er bald wieder tanzen kann!