Verein Rückenwind Wenn Urlaub kaum möglich ist
Freizeit ist für Eltern mit schwerst mehrfachbehinderten Kindern selten – und Urlaub kaum zu machen. Jetzt fordern sie vom Kreis Esslingen Hilfe ein.
Freizeit ist für Eltern mit schwerst mehrfachbehinderten Kindern selten – und Urlaub kaum zu machen. Jetzt fordern sie vom Kreis Esslingen Hilfe ein.
Schweißausbrüche sind vorprogrammiert, wenn das nachtaktive Kind um vier Uhr in der Früh beginnt, ständig an die Wand zu klopfen. Urlaub in einem Hotel oder in einer Ferienanlage sei deshalb nicht möglich, berichtet die Esslingerin Ursula Hofmann, deren jüngste Tochter Anne vor 20 Jahren mit einem seltenen Gendefekt geboren wurde und permanent auf Hilfe angewiesen ist. Deshalb macht Hofmann mit ihrer Familie lieber in einer Ferienwohnung Urlaub. Verletzende Bemerkungen und schräge Blicke in Hotels kennt auch Cordula Hammann aus Hochdorf, deren Sohn seit einem Unfall schwer mehrfachbehindert und auch in der Nacht auf Betreuung angewiesen ist.
Häufig ist Urlaub für Familien mit besonderen Kindern gar nicht möglich. Das liegt an finanziellen und organisatorischen Gründen, berichten die beiden Frauen, die im Verein Rückenwind aktiv sind. Das Bündnis hat sich auf die Fahnen geschrieben, pflegende Mütter von Kindern mit Behinderung zu stärken und für deren Rechte zu kämpfen. Wie sollen Familien 14 Wochen Ferien überbrücken, fragen Hofmann und Hammann, zumal sich die Ferienprogramme, die angeboten werden, in der Regel nur für gehandicapte Kinder und Jugendliche mit weniger Hilfebedarf eigneten. Manchmal scheitere die Teilnahme an fehlenden Assistenzkräften, manchmal an einer Wickelmöglichkeit.
Der Bereich Offene Hilfen/Familienentlastende Dienste der Lebenshilfe Esslingen hat neben Kinderwochenenden, Samstagsbetreuung und verschiedenen Gruppenangeboten auch eine Nachmittagsbetreuung im Programm, berichtet Frank Wagner, der im Auftrag der Lebenshilfe auch die stark gefragten Ferienangebote für Kinder und Jugendliche mit Behinderung koordiniert. Derzeit gibt es ein Faschings- und ein Osterferienprogramm, das Haupt- und Ehrenamtliche in den Räumen der Lebenshilfe anbieten. Zudem wird seit 2017 am Rohräckerschulzentrum – das sind die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren und Schulkindergärten – ein zweiwöchiges Sommerferienprogramm angeboten, das der Landkreis finanziert.
„Für viele Familien sind unsere Ferienprogramme eine sehr wichtige Entlastung“, erklärt Wagner. Vor allem bei Kindern und Jugendlichen mit Schwerstmehrfachbehinderung, mit einem hohen Pflegebedarf oder herausforderndem Verhalten sei der Bedarf sehr hoch. Dies zeige sich auch an den steigenden Teilnehmerzahlen für das Sommerferienprogramm, für das 60 Anmeldungen vorliegen. „Wir sehen die Lücken für weitaus mehr Angebote, können allerdings wegen einer fehlenden ausreichenden Finanzierung den Bedarf leider nicht decken“, weist Wagner auf das Problem hin.
Für junge Erwachsene ab 18 Jahren, die in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung oder in einem Außenarbeitsplatz arbeiten können, bieten die Lebenshilfe und überregionale Träger Wochenendfreizeiten und Reisen an. Aber auch für diesen Personenkreis seien die Angebote noch lange nicht ausreichend.
Ursula Hofmann macht kein Hehl daraus, dass sie wütend auf das System ist, das Familien mit Kindern mit Behinderung nicht auffängt, wie sie sagt. Ähnlich wie in anderen betroffenen Familien, wo die Hauptbetreuungslast auf den Schultern der Mütter liege, hat auch die Stadträtin, die als leitende Hebamme in einer Klinik gearbeitet hat, mit der Geburt von Anne ihren Beruf aufgeben müssen.
Wenn diese Mütter eine Kur brauchen oder nur eine kurze Auszeit planen, bleibt immer die Frage, wo ihr Kind so lange betreut werden kann. „Kurzzeitplätze für Kinder und Jugendliche mit Behinderung sind im Landkreis bisher nicht vorhanden“, räumt die Kreissprecherin Andrea Wangner ein. Der Mangel führt dazu, dass Eltern aus dem Kreis Esslingen um die wenigen Plätze anderswo konkurrieren müssen. So gibt es im Kindergästehaus der Caritas Stuttgart gerade einmal elf Plätze, und im Aufschnaufhaus Ulm sind es zehn. Ein Jahr im Voraus muss man sich dort bewerben – und dann werden die Plätze ausgelost, berichtet Hofmann.
Die Informationen zu dem raren Angebot haben die Rückenwind-Frauen selbst zusammentragen müssen und daraus jetzt eine Broschüre gemacht. Darin finden sich Beratungs- und Anlaufstellen sowie weitere nützliche Adressen; zudem gibt es Tipps bei Fragen rund um Teilhabe, Bildung, Grundsicherung, Eingliederungshilfe, Kurmöglichkeiten, Schulen und Selbsthilfegruppen.
Übrigens planen die Kreise Esslingen und Göppingen mit der Diakonie Stetten bereits seit 2014 eine Einrichtung mit Kurzzeitplätzen und stationären Plätzen. Wann dieses Haus in Baltmannsweiler endlich errichtet wird, ist allerdings immer noch unklar. Man sei jetzt in die Detailplanung eingestiegen, hieß es nach langer Funkpause im Juni.
Rückenwind
Der Verein Rückenwind wurde 2015 in Esslingen gegründet. Davor gab es eine Elterngruppe, die sich in Bürokratiefragen unterstützte. Der Verein wendet sich an Familien mit besonderen Kindern, darunter schwer mehrfach behinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene.
Angebot
Für Erwachsene mit wesentlicher Behinderung gibt es auf den Landkreis verteilt derzeit elf Kurzzeitplätze. Die Auslastung liegt laut Kreisverwaltung bei rund 30 Prozent, so sei in der Regel ein Platz belegbar. Derzeit erfolgt die Fortschreibung der Teilhabeplanung für Menschen mit Behinderung. Sollte sich hierbei zusätzlicher Bedarf abzeichnen, werde dieser bei künftigen Neuplanungen berücksichtigt. Über eine Kurzzeitbetreuung in Gastfamilien hat der Kreis mit der Diakonie Stetten eine Vereinbarung getroffen.
Konzept
Der Sozialausschuss des Landkreises hat die Verwaltung mit der Entwicklung einer Konzeption zur inklusiven Ferienbetreuung beauftragt. Dazu gab es dieses Jahres eine Erhebung, die derzeit ausgewertet wird.