Granit Xhaka nimmt im Schweizer Nationalteam eine Schlüsselrolle ein. Der Diplomat vom Dienst ist er dabei nicht immer.
Wo man auch hinblickt im Schweizer EM-Quartier, es gibt kein Vorbeikommen an Granit Xhaka. Völlig unmöglich. Niemand wird beim öffentlichen Training lauter bejubelt, kein Spieler ist im Medienzentrum größer plakatiert, an allen Ecken und Enden geht es um den Kapitän und Mittelfeld-Chef. Keine Frage: Auf Xhaka ruhen ganz wesentlich die Hoffnungen der Eidgenossen, die an diesem Samstag um 15 Uhr gegen Ungarn in Köln in die Europameisterschaft starten.
Nun muss sich niemand Sorgen machen, dass dem 31-Jährigen der ganze Rummel zu viel werden könnte. Xhaka ist für seine breite Brust bekannt, die nach der Fabel-Saison mit Bayer Leverkusen noch ein bisschen breiter geworden ist: Der Meistertitel mit der Werkself war sein erster in einer der großen Ligen Europas, nachdem er vergangenes Jahr mit dem FC Arsenal auf der Zielgeraden noch von Manchester City abgefangen worden war. Die persönlich aufpolierte Vita macht sich auch im Kreis der Nationalmannschaft bemerkbar. „Er ist mit noch mehr Selbstvertrauen hierher gekommen“, berichtet Mitspieler Xherdan Shaqiri – um vielsagend nachzuschieben: „Und er hatte davor schon viel.“
Zwist mit dem Nationaltrainer ausgeräumt
Das findet nicht nur auf dem Feld Niederschlag. Der Diplomat vom Dienst war Xhaka nie, er kann aufbrausend und impulsiv sein, eckt auch mal an. Selbst mit dem eigenen Trainer: Als es im vergangenen Herbst in der EM-Qualifikation alles andere als rund lief, wurde Xhaka nach dem 2:2 gegen Kosovo deutlich: „Im Training war kein Rhythmus, im Training war kein Tempo und so haben wir auch gespielt.“
Nationalcoach Murat Yakin war von den Aussagen wenig überraschend nicht begeistert, machte aber auch keine große Sache daraus – womöglich, weil er als Spieler ab und an selbst in ähnlicher Weise vorgeprescht war. Als ihm einst sein Trainer Christian Gross bei den Grasshoppers Zürich mangelnden Einsatz vorgeworfen hatte, konterte der 20-jährige Yakin in einem Interview mit dem „Tages-Anzeiger“: „Der Trainer ist einer der Menschen, die mich überhaupt nicht kennen.“
Xhaka und Yakin, das lässt sich festhalten, kennen sich inzwischen ganz gut und haben einen gemeinsamen Nenner gefunden. Bei einem Besuch Yakins im Rheinland im Februar gab es eine längere Aussprache, im März folgte schließlich ein gemeinsames Interview im Schweizer Fernsehen – bei dem Xhaka gar von einem hervorragenden Verhältnis zum Trainer sprach und ankündigte: „Wir wollen miteinander eine gute EM spielen.“
Die Chancen dafür stehen beim Blick auf das Personal nicht schlecht, neben Fixpunkt Xhaka auf der Position vor der Abwehr haben die Eidgenossen noch einige renommierte Akteure in ihren Reihen: Torhüter Yann Sommer (Inter Mailand) wurde zuletzt Meister in Italien, Innenverteidiger Manuel Akanji (Manchester City) in der englischen Premier League. Die Defensive steht, das sieht auch Xhaka so: „Wir sind gut organisiert, das hat Hand und Fuß.“
In der Offensive der Schweizer hapert es
Der wunde Punkt liegt woanders: Ganz vorne hapert es, ein verlässlich treffender Torjäger fehlt der Schweiz seit Monaten. Der frühere Mönchengladbacher Breel Embolo (27) ist nach seinem Kreuzbandriss und zuletzt muskulären Problemen zwar wieder dabei, aber noch längst nicht bei 100 Prozent. Er könnte mit zunehmender Turnierdauer zum Faktor werden, womöglich auch im letzten Gruppenspiel gegen Deutschland.
Zum Auftakt gegen die Ungarn wird dagegen vieles auf das Kollektiv ankommen. Und damit auf Anführer Xhaka, der mit der Erfahrung von 125 A-Länderspielen die Gruppe zusammenhalten und mitreißen soll – als Kommandogeber, Zweikämpfer und Ballverteiler gleichermaßen. Ob er sich bereit dafür fühlt? Diese Frage erübrigt sich. „Der Hunger ist riesig wie nie zuvor“, sagt Xhaka vor dem Start in die EM, „ich will als Kapitän und Leader vorangehen.“ Alles andere hätte auch überrascht.