EM 2024 – Stuttgarts spezielle Fußballorte Revolution in Ruit – wo der Fußball neu gedacht wurde

Wolfgang Kopp (linkes Bild, li.) und Herbert Göpferich auf Platz eins der Landessportschule in Ostfildern-Ruit Foto: Baumann/Alexander Keppler

Die ganze Stadt ein Stadion – so lautet das Stuttgarter Motto zur EM 2024. Aber: Welche Orte machen den Fußball in Stuttgart wirklich aus? Wir stellen besondere vor. Folge 6: die Sportschule Ruit kurz hinter der Stadtgrenze.

Sport: Dirk Preiß (dip)

Schon weit über eine Stunde ist vorüber, gefüllt war sie mit Geschichten, Anekdoten, Persönlichkeiten, Erinnerungen. Doch als die Verabschiedung naht, meinen Wolfgang Kopp und Herbert Göpferich trocken: „Wir könnten noch viel mehr erzählen.“ Daran besteht kein Zweifel.

 

Denn am Ort des Gesprächs kommen bei den beiden fast minütlich neue Erinnerungen hoch. Hier, in der Landessportschule Ruit, haben beide jahrzehntelang gewirkt. Haben Trainerinnen und Trainer ausgebildet, Jugendspieler betreut – und Spielphilosophien entwickelt. Vor allem Letzteres hat dem Standort und dem Württembergischen Fußball-Verband (WFV) einst einen bundesweiten Ruf, ein Innovationslabor des Fußballs zu sein, eingebracht. „Unser einstiger Trainerlehrstab hat hierfür die Basis gelegt, so waren wir anderen Landesverbänden taktisch voraus“, sagt Wolfgang Kopp.

Das war in den 1990er Jahren – und die Namen, die dafür standen, sind auch heute noch präsent im deutschen und auch internationalen Profifußball. Ralf Rangnick, der heutige Nationalcoach Österreichs. Helmut Groß, jahrelang dessen Mentor und vor einigen Monaten verstorben. Martin Hägele, langjähriger Verbandssportlehrer. Thomas Albeck, lange Nachwuchschef beim VfB Stuttgart und danach bei RB Leipzig (leider auch bereits verstorben). Und natürlich Wolfgang Kopp, der heute sagt: „Wir wollten damals unsere eigene Philosophie entwickeln.“ Die zuvor einen internationalen Impuls bekommen hatte.

Der WFV residiert in der Stuttgarter City in der Goethestraße. Fast noch wichtiger als die Verbandszentrale ist die Aus- und Fortbildungsstätte kurz nach der Stadtgrenze oben in Ostfildern-Ruit. Denn hier finden nicht nur seit Jahrzehnten Lehrgänge der württembergischen Auswahlmannschaften statt und wurden nicht nur Tausende Trainerinnen und Trainer (hauptsächlich für die Basis der Amateurvereine) ausgebildet. Nicht nur Mannschaften des VfB Stuttgart kamen zum Training auf die Filder, nicht nur spätere deutsche Nationalspieler wurden hier entwickelt. Die Landessportschule, an der der WFV Miteigentümer ist, zog auch immer internationale Gäste an. Und Ende der 1980er Jahre waren es vor allem die Mannschaft von Dynamo Kiew und deren Trainer Waleri Lobanowski, von denen die WFV-Coaches inspiriert wurden.

Die VfB-Talente kamen gerne nach Ruit

Viererkette, ballorientiertes Spiel, kein Libero mehr – und so weiter. Der Fußball wurde neu gedacht. Und Ruit entwickelte sich zur Wiege einer kleinen Fußballrevolution in Deutschland. „Wir haben das gesehen, haben es weiterentwickelt und konnten es mit unseren Auswahlmannschaften auch immer in der Praxis ausprobieren“, erinnert sich Wolfgang Kopp.

Der hatte, weil er aus dem Kreis Heilbronn stammt, einst ein eigenes Büro und Zimmer in der Sportschule. Das Gebäude musste zwar längst einem weitläufigen und modernen Campus weichen, die Erinnerungen sind aber noch frisch. Vor allem auch an die vielen Jugendspieler, die später und noch heute als Profi Spuren hinterlassen haben – und einst in Ruit unter der WFV-Aufsicht gefördert und gefordert wurden.

„Für uns war es immer wichtig, dass die Talente gerne zu uns nach Ruit kommen“, sagt Wolfgang Kopp. Dass sie abseits ihrer Vereine einen guten Spirit vorfinden und den Ausflug in die Auswahlmannschaften des Verbands als zusätzliche Möglichkeit haben, sich zu zeigen, sich zu entwickeln. Und was zu erleben. Noch heute schwärmt der langjährige Verbandssportlehrer von der Reise nach Kamerun im Vorfeld der WM 2002.

Eigentlich war ausgemacht, dass die A-Nationalmannschaft zwei Testspiele im afrikanischen Land bestreitet. Dann aber wurden beide Nationen in eine Gruppe der Weltmeisterschaft gelost – und man wollte ein vorheriges Aufeinandertreffen vermeiden. Also wurde entschieden: Der Sieger des DFB-Länderpokals darf reisen. Und das war das Nachwuchsteam des WFV. „Ein Abenteuer der besonderen Art“, erinnert sich Wolfgang Kopp – und erzählt gleich noch die Geschichte, die zum Erfolg der Auswahl geführt hat. Sie hat mit einem gewissen Kevin Kuranyi zu tun.

Als Kevin Kuranyi den WFV zum Länderpokalsieg schoss

Der galt damals als Ausnahmetalent, „ein Unterschiedsspieler“, wie Wolfgang Kopp sagt. Mit dem damaligen VfB-Youngster hatte die WFV-Auswahl in Duisburg das Länderpokalfinale erreicht. Dann aber erreichte Kuranyi der Ruf aus der Heimat. Felix Magath, dem damaligen VfB-Trainer, waren die Stürmer ausgegangen. Kuranyi stürmte also für das Bundesliga-Team in Kaiserslautern, traf – und für die WFV-Trainer war zunächst klar: Den sehen wir nicht wieder. Doch Wolfgang Kopp ließ nicht locker.

Er ging nach einem VfB-Training zu Felix Magath („Was wollen Sie?“), wurde zunächst vertröstet, doch nachdem der Cheftrainer mit seinem Schützling Rücksprache gehalten hatte, hieß es am Tag darauf: „Herr Kopp, Sie bekommen den Kuranyi. Aber Sie kennen unsere Situation. Bringen Sie ihn gesund zurück!“

Das passierte – und Länderpokalsieger war der junge Kevin obendrein. Gegen die Auswahl aus Westfalen hatte er zweimal getroffen, Benjamin Adrion einmal. „Ich schwärme noch heute, wenn ich an diese Mannschaft denke“, sagt Wolfgang Kopp. Doch alles begann ja schon viel früher.

Herbert Göpferich, 37 Jahre lang für den WFV tätig, erinnert sich, wie er einst Jürgen Klinsmann als E-Jugendlichen im Auswahltraining oder die erste Mädchenauswahl im WFV betreut hat. Horst Köppel schob einst private Sonderschichten „oben“ in Ruit. Helmut Roleder stand für den WFV im Tor, Rainer Adrion auf dem Platz. So wie danach zahlreiche spätere Profis und Nationalspieler wie Mario Gomez, Andreas Hinkel, Christian Gentner, Sebastian Rudy, Bernd Leno, Timo Werner, Daniel Didavi Ioannis Amanatidis, Andreas Beck, Sven Ulreich, Ermin Bicakcic oder Joshua Kimmich.

Auch die heutigen Profitrainer Frank Schmidt, Thomas Letsch, Domenico Tedesco, Julian Schuster oder Alexander Zorniger haben die Ruiter Schule durchlaufen und teils mitgeprägt. Und auch wenn die Landessportschule Anlauf- und Ausbildungsstelle für ganz Württemberg und auch internationale Gäste war, hat sie den Fußball gerade in Stuttgart besonders geprägt.

Wegen der Nähe zu dem VfB und den Kickers. Aber auch wegen der Menschen, die deren junge Spieler außerhalb des Clubs vorangebracht haben. „Verbandstrainer zu sein“, sagt Wolfgang Kopp, „das war und ist für mich eine Berufung, eine Herzensangelegenheit.“ Manche der einstigen Auswahlteams treffen sich heutzutage wieder, sind in Whatsapp-Gruppen verbunden. „Das sagt eigentlich alles“, meint Kopp. Und manch einer ist heute auch wieder regelmäßig in Ruit.

Als Vater, dessen Kind es in die WFV-Auswahl geschafft hat.

Ihre speziellen Fußball-Orte

Unsere Reihe
Wir stellen in einer kleinen Reihe ohne Anspruch auf Vollständigkeit spezielle Fußball-Orte in Stuttgart vor. Den Auftakt machte der Bolzplatz an der Fleiner Straße, auf dem einst Hansi Müller das Kicken lernte. Es folgten der B-Block im Gazi-Stadion, die Gaststätte des PSV Stuttgart, die Cannstatter Kurve und der Sportplatz des TSV Uhlbach. Weitere Folgen veröffentlichen wir in den kommenden Tagen.

Ihre Erfahrungen
Uns interessieren aber natürlich auch Ihre und eure Erfahrungen. Was sind Ihre und eure speziellen Fußball-Orte in Stuttgart – und warum? Schreiben Sie uns gerne unter topsport@stzn.de.

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