Emma Clines Roman „The Girls“ wird in Amerika als Sensation gefeiert. Er erzählt von der Initiation eines Mädchens in den Kreis der „Manson Family“, die mit bestialischen Morden die Hippie-Utopie eines andern Lebens in Blut ertränkt hat. Jetzt ist er auf Deutsch erschienen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - In diesen Tagen ist in Kalifornien das Gnadengesuch der heute 66 Jahre alten Leslie Van Houten abgelehnt worden. Sie sei weiterhin eine „unzumutbare Gefahr für die Gesellschaft“ hieß es in der Begründung. Als 19-Jährige war sie an der grässlichen Mordserie beteiligt, mit der 1969 die Musen des verkrachten Musikers und Sektenführers Charles Manson das vielleicht düsterste Kapitel der Hippie-Ära geschrieben haben. Es kulminierte in dem bestialischen Gemetzel, dem die hochschwangere Schauspielerin und Ehefrau der Regisseurs Roman Polanski, Sharon Tate, zum Opfer fiel. Doch nicht wegen der Bestätigung der lebenslangen Haftstrafe für die mittlerweile geläuterte Täterin rücken die Verbrechen der „Manson Family“ derzeit wieder ins öffentliche Bewusstsein, sondern wegen des Romans einer jungen Amerikanerin, der sich hinter die Absperrbänder des in dutzenden Monografien kriminalitäts-, pop- und sektengeschichtlich vermessenen Geländes wagt.

 

Von Emma Cline – mit 25 Jahren bei der Abfassung ihres Romans „The Girls“ nur unwesentlich älter, als die gefallenen Flower-Power-Engel, deren Verirrungen sie beschreibt – kursieren Fotos, die sie als eine Wiedergängerin jener teuflischen Mädchen erscheinen lassen, auf die der auch in der eben erschienenen deutschen Ausgabe beibehaltene Titel anspielt. Sicher, das gehört zum Marketing ebenso wie das Sensationsrumoren, das ihrem Buch voraus ging, die zwei Millionen Dollar, die Random House das Manuskript der Debütantin wert gewesen sein soll, die eindrucksvollen Quotes, die den Umschlag zieren. Etwa von dem Altmeister Richard Ford, der der jungen Kollegin bescheinigt ein „beeindruckendes Werk“ geschrieben zu haben, „nicht nur für eine Autorin ihres Alters, sondern für jeden Autor und jede Zeit.“

Seelenwanderung in die Abgründe des Bewusstseins

Und doch führen derartige strategische Äußerlichkeiten in diesem Fall nur soweit in die Irre, wie es dem Stoff eines fatalen jugendlichen Irrwegs angemessen ist. Denn mag die hübsch und langhaarig-verträumt inszenierte Kalifornierin auch keine Wiedergängerin dämonisch faszinierender Dunkel-Idole sein, wagt sie immerhin eine gefährliche Seelenwanderung in die Abgründe des Bewusstseins. Und vielleicht ist sie dazu nicht trotz, sondern gerade wegen ihres Alters prädestiniert.

Am Anfang steht ein vom Glanz der Sehnsucht überhöhtes Tableau: „Als erstes fielen mir ihre Haare auf, die lang und ungekämmt waren. Dann der Schmuck, in dem sich das Sonnenlicht fing.“ Wie Fürstinnen im Exil erscheinen der Ich-Erzählerin die eigenartigen Mädchen, über allem schwebend, was um sie herum geschah, im nächsten Moment freilich auch „geschmeidig und gedankenlos wie durch das Wasser gleitende Haie“. Schön und gefährlich zugleich – das Idol als verführerisches Kippbild gibt dem Leben der jungen Beobachterin eine neue Wendung.

Zum Zeitpunkt der Ereignisse dieses mörderischen Sommers des Jahres 1969 ist Evie vierzehn Jahre alt, Jahrzehnte später blickt sie zurück. Als Frau mittleren Alters betritt sie noch einmal den seelischen Kosmos des jungen Mädchens das sie einmal war. Eines Mädchens, das im Wartezimmer seiner frühen Jahre ungeduldig darauf harrt, dass etwas käme, was den Wünschen Form verleihen würde, um aus dem Muff von Pickeln, Peinlichkeiten und sich grotesk aufführenden Eltern zu erlösen. Mit feinnerviger Präzision lässt Emma Cline das erzählerische Blut in die öden Standardbedingungen einer behüteten Pubertät einschießen: in die Scheidungskalamitäten, die Vulgaritäten der Eltern, wenn der Vater den Hintern der Nachbarin durch den feuchten Stoff des Badeanzugs befingert, oder die Mutter mit einer hilflosen Geste ihren albernen Tellerrock glattstreicht. „In mir siedete Nacht“, heißt über den lastenden Wachtraum dieser Jugend.

Vom Gegenbild zum Zerrbild

Und plötzlich wird es Tag im Kreis der bösen Mädchen. Der Geruch der Freiheit haftet an ihren ungewaschenen Leibern, die Andeutung von etwas Sexuellem liegt in ihren Gesichtern, wenn sie von Russel, dem Mittelpunkt ihrer auf einer verkommenen Ranch nistenden Hippie-Kommune reden. Russel ist nach Mansons Vorbild gefasst, kümmerlich und charismatisch, biblisch-salbungsvoll und bestialisch-brutal, voll genialischen Selbstgefühls und verpeilter Musikalität zugleich. Mit den verdrehten Propheten-Worten „Du bist da“ nimmt er Evie in seinen Lumpenorden auf. Die Erzählerin durchläuft die Initiation auf seiner Matratze, erliegt aber weniger ihm, als der identifikatorischen Liebe zu einer seiner Jüngerinnen. Sie trägt über die zunehmende Verratztheit des Zusammenlebens hinweg, über verkommene Kinderzombies, die in verschissenen Windeln in schlammigen Lachen planschen. Und sie hält die Utopie noch aufrecht, wenn in den Schwaden trüber Drogen langsam aber sicher das Gegenbild zum Zerrbild der verachten Welt draußen verfliegt.

Zwischen den Eckdaten der Manson-Philologie, der historiografischen Aufarbeitung des Geschehens, und dem inneren Erleben Evies sucht der Roman seinen Weg. Er verkehrt damit auf eigentümliche Weise die Regeln einer Bildungserzählung. Nach dieser hieße Erwachsenwerden, die Ansprüche der Innen- mit denen der Außenwelt in ein Verhältnis zu setzen. Hier aber läuft diesem Prozess auf beunruhigende Weise ein anderer parallel. Er setzt den erzieherischen Optimismus einer nach und nach erlangten Realitätsgerechtigkeit provozierend außer Kraft: Denn hier gewinnt das Skandalon Gestalt, wie die reiche seelische Entwicklung der Erzählerin Evie Schritt für Schritt mit der entsetzlichen Faktenlage der Wirklichkeit zur Deckung kommt, auch wenn Evie selbst am Ende kurz vor dem verbrecherischen Abgrund verharrt.

Reiz der Rebellion

In Zeiten, in denen sich der Amoklauf auf welcher Grundlage auch immer als ein neuer Jugendkult zu etablieren beginnt, kann es über den voyeuristischen Schauder an alten Gräuelgeschichten hinaus durchaus von akutem Interesse sein, welche destruktiven Kräfte junge Leute freizusetzen in der Lage sind, wenn das Leben droht, sie an einen enttäuschenden Platz abzuschieben. Es bedarf dazu nicht notwendig der lockenden Vorstellung schöner Jungfrauen im Paradies. Manchmal reicht eine Begegnung mit langhaarigen Mädchen völlig aus.

Der Reiz der Rebellion und das Pathos der Tat wuchern auf dem kargen Grund dürftiger Verhältnisse. Emma Clines mit allen Giften der Verführung getränkter Roman erinnert an die unabsehbaren Möglichkeiten, in die man auf der Suche nach einem besseren Leben geraten kann. Und dass es oft eher Zufälle als bewusste Entscheidungen sind, die uns daran hindern sie zu realisieren.