Die Politologin Claire Demesmay erwartet nach dem Urnengang im Nachbarland neue deutsch-französische Initiativen – und plädiert für eine starke Geste gegenüber der Ukraine.

In der Bundesregierung und im Bundestag ist die Erleichterung über den Wahlausgang in Frankreich groß. Die Politikwissenschaftlerin Claire Demesmay erläutert, welche Folgen der Sieg Emmanuel Macrons für das Verhältnis zwischen Paris und Berlin haben dürfte.

 

Frau Demesmay, was bedeutet Macrons Wiederwahl für die deutsch-französischen Beziehungen?

In erster Linie bedeutet Macrons Wiederwahl, dass Frankreich pro-europäisch bleibt und den Beziehungen zu Deutschland weiterhin größte Bedeutung einräumen wird. Im Falle eines Wahlsieges der rechtsextremen Kandidatin Marine Le Pen hätte sich das Land ins Nationale zurückgezogen. Die meisten europäischen und deutsch-französischen Projekte wären zum Erliegen gekommen.

Können Sie Beispiel nennen?

Ich gehe davon aus, dass es bei den großen europäischen Baustellen Verteidigung, Energie und Klima oder Wirtschaft und Währung mit Frau Le Pen keinerlei Fortschritte mehr gegeben hätte. Das Gleiche gilt für die Reisefreiheit im Schengen-Raum und die Migrationspolitik. Mit Kanzler Olaf Scholz und Präsident Emmanuel Macron an der Spitze können Deutschland und Frankreich auch eine gemeinsame Politik mit Blick auf Russlands Angriffskrieg in der Ukraine entwickeln. Das wäre mit Le Pen unmöglich gewesen, sie steht dem Kreml nahe.

Sollten Scholz und Macron nach Kiew reisen?

Ja, und zwar gemeinsam und möglichst schnell. Das wäre eine wichtige Geste der Unterstützung zugunsten der Ukraine. Deutschland und Frankreich stehen hier in besonderer Verantwortung. Schließlich waren sie die treibenden Kräfte hinter dem Minsker Abkommen von 2015, das der Ukraine eigentlich Frieden bringen sollte. Frankreich hat überdies gerade den EU-Ratsvorsitz inne, Deutschland die G 7-Präsidentschaft.

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Sind nach Macrons Wiederwahl neue deutsch-französische Initiativen für Europa zu erwarten?

Das kann ich mir gut vorstellen. Zwar dürfte sich Macron jetzt zunächst auf die Innenpolitik konzentrieren. Das ist eine Lehre der Präsidentschaftswahlen. Die dominierenden Themen im Wahlkampf waren Kaufkraft, Bildung und Rente – und nicht die Europa- und Außenpolitik. Gleichwohl dürften aus Paris auch neue Impulse für die deutsch-französischen Beziehungen und für Europa kommen. Sehr bald wird Macron nach Deutschland reisen. Es wird auch erwartet, dass er im kommenden Monat eine große Europa-Rede hält. Im Juni finden Parlamentswahlen in Frankreich statt. Danach dürfte der Zeitpunkt für neue Initiativen gekommen sein. Im Januar 2023 wird der Elysée-Vertrag, der das besondere Verhältnis zwischen beiden Ländern begründet hat, 60 Jahre alt. Solche runden Jahrestage gehen üblicherweise nicht nur mit Feiern einher, sondern auch mit neuen Integrationsprojekten.

In welchen Bereichen könnte es die geben?

Das große Thema der Zeit jenseits des Kriegs in der Ukraine ist Energie, Transformation und Klimaschutz. Dies könnte auf europäischer Ebene verknüpft werden mit der Weiterentwicklung der Wirtschafts- und Währungsunion. Konkret geht es um die gemeinsame Schuldenaufnahme der Europäischen Union, die es jetzt im Zuge der Coronakrise erstmals im großen Stil gegeben hat. Die alte Bundesregierung betonte stets, dass das eine einmalige Angelegenheit unter besonderen Umständen gewesen sei. Der neue Kanzler sieht das nicht so eng. Frankreich wiederum hat den Vorgang immer als Einstieg in eine neue, gemeinsame Finanzpolitik betrachtet – mit dem Ziel, die Gemeinschaftswährung krisenfest zu machen und Europas Wirtschaft mithilfe gemeinsam finanzierter Investitionen zu modernisieren.

Der Bundeskanzler hat vor wenigen Tagen die Franzosen ausdrücklich aufgerufen, bei der Wahl für Emmanuel Macron zu stimmen. Er tat das gemeinsam mit den sozialdemokratischen Regierungschefs Spaniens und Portugals. Der Schritt war ungewöhnlich. War er auch riskant?

Es gibt antideutsche Ressentiments in der extremen französischen Linken und Rechten, insofern barg der gemeinsame Aufruf der drei sozialdemokratischen Regierungschefs schon ein gewisses Risiko. Er ist dann aber in der breiten Öffentlichkeit nicht allzu intensiv diskutiert worden – sondern eher in Kreisen, die sich für Außenpolitik interessieren und pro-europäisch eingestellt sind.