Der Vater des Mordopfers Halil Yozgat schildert, wie die Familie durch die Tat doppelt traumatisiert wurde.

München - Ismail Yozgat springt im Verhandlungssaal des Münchner Oberlandesgerichts von seinem Zeugenstuhl auf und wirft seine Arme nach oben: „Er hat keine Antwort gegeben!“, ruft er immer wieder laut und anklagend. Er dreht sich und schaut zu den anderen Nebenklägern und den Zuschauern: „Er hat keine Antwort gegeben!“ Vergeblich versucht der Vorsitzende Richter Manfred Götzl, den Vater des neunten Mordopfers des rechtsterroristischen NSU zu beruhigen.

 

Soeben hat der Zeuge berichtet, wie er 6. April 2006 kurz nach 17 Uhr seinen Sohn Halit Yozgat in dessen Internetcafe am Boden liegend vorgefunden hat. Der Vater hatte sich um wenige Minuten verspätet, der Sohn wollte zur Abendschule. Das erste, was Ismail Yozgat beim Betreten des Internet-Cafes auffiel, waren zwei kleine rote Flecken auf der Theke. Er dachte zunächst an Farbe. Dann sah er hinter dem Verkaufstresen seinen Sohn liegen. Es war viel Blut. Erst dachte der Vater, es sei eine Komplikation nach dessen Magenspiegelung am Morgen. „Ich habe meinen Sohn in die Arme genommen.“ Es sei ihm nicht gelungen mit seinem Handy oder an einem der Telefone Hilfe herbeizuholen, berichtet Ismail Yozgat, deshalb sei er zu einer nahen Teestube gerannt. Die Leute dort seien mitgekommen und hätten geholfen. Dann kamen Polizei und Krankenwagen. Es hat länger gedauert, bis Yozgat seine Gefühle gebändigt hatte und dem Gericht die Ereignisse schildern konnte.

„Wir haben uns nicht mehr nach draußen getraut“

Begonnen hat der Vater seine vorbereitete Aussage mit einer „respektvollen Begrüßung“ des Gerichts, aller Beteiligten, vor allem aber der Angehörigen der „Familien der Märtyrer“. So beschreibt er die Angehörigen der zehn Mordopfer. Yozgat berichtet, wie er am Tag des Mordes zunächst gemeinsam mit seiner Frau das Geschenk für seinen Geburtstag am Tag darauf gekauft hatte: Eine Werkzeug-Kiste für 23 Euro. Und er erklärt, dass er danach die Feier seines Geburtstages verboten habe. Er werde bis zu seinem Lebensende seinen Geburtstag nicht mehr feiern, sagt der 58jährige Frührentner. Sie hätten die Leiche des Sohnes bereits am 8. April in die Türkei gebracht. Dort habe er ihn ins Grab gelegt. „Wir sind eine aufrichtige Familie.“

Dennoch hätten die Menschen in den Jahren zwischen 2006 und 2011 – damals wurde die Verantwortung des NSU für all die Morde bekannt – schlecht über seine Familie geredet, die Deutschen und auch die Türken. Sie hätten gefragt: „Warum haben sie deinen Sohn getötet?“ Von Haschisch sei die Rede gewesen, von der Mafia. „Wir haben uns nicht mehr nach draußen getraut“, sagt Ismail Yozgat. Seine Frau sitzt hinter ihm und streichelt immer wieder beruhigend den Rücken ihres aufgewühlten Mannes. „Warum haben sie mein Lämmchen getötet“, ruft der Zeuge.

Die Polizei habe all seine Verwandten und Bekannten verhört und sie habe schlecht von der Familie gesprochen. „Die Familie Yozgat soll das und das und das gemacht haben“, sei gesagt worden. Selbst in der Türkei hätten seine Verwandten nicht mehr mit ihm gesprochen. „Ich konnte das nicht mehr ertragen und erlitt einen Herzinfarkt.“ Er sei direkt nach dem Auffinden seines Sohnes zu einer stundenlangen Vernehmung abgeführt worden, er habe Frau und Töchter nicht über die Tat informieren können. Er habe keine Zeit gehabt, sich mit seiner Familie zu beschäftigen: „Wie haben es meine Töchter erfahren? Wie ist meine Frau aus der Stadt gekommen?“

„Die Familie Yozgat hat kein Geld bekommen“

Ismail Yozgat ärgert besonders der Eindruck, alle Familien der Opfer hätten Geld vom Staat bekommen: „Die Familie Yozgat hat kein Geld bekommen und das wollen wir auch nicht.“ Er wolle, dass die Justiz funktioniere und die Gerechtigkeit ihren Platz bekomme. Er könne nicht verstehen, dass der Verfassungsschutz-Mitarbeiter, der zur Tatzeit im Internet-Cafe war und zunächst als Verdächtiger festgenommen wurde, wieder freigelassen worden sei, „auf Befehl von oben“, wie er vermutet. Er habe aber volles Vertrauen zu Richter Götzl.

Indirekt entlastet Yozgat den Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas T. aber auch ein bisschen. Denn er bestätigte ungefragt, dass auf der Theke ein 50-Cent-Stück gelegen habe. Der Verfassungsschützer hatte ausgesagt, das Cafe verlassen zu haben, ohne Halit Yozgat gesehen zu haben. Er habe deshalb 50 Cent auf den Tresen gelegt. Stimmt diese Aussage, müsste zu diesem Zeitpunkt das Opfer bereits tot hinter dem Tisch gelegen haben. Der Mord, von dem der Verfassungsschützer im Cafe nichts mitbekommen haben will, müsste sich unmittelbar zuvor ereignet haben.

Welch ein Unterschied zum Vater die Vernehmung des einstigen Verfassungsschutzbeamten Andreas T. Der rundliche 46jährige Mann windet sich unter der intensiven Befragung durch Götzl. Ja, er habe sich nach der Tat nicht bei der Polizei gemeldet. Denn er habe, frisch verheiratet und werdender Vater, private Probleme befürchtet, wenn seine Frau erfahren hätte, dass er im Internet in einschlägigen Foren chattet. Und er habe Probleme mit dem Dienstherrn befürchtet, zumal sich in der Nähe ein überwachtes „Objekt“ befunden habe. Immer wieder betont der Beamte, er habe nichts gesehen und nichts Auffälliges bemerkt. Götzl macht sein Unverständnis deutlich, dass der Zeuge den Tag im Internet-Cafe vom Tattag auf den Vortag verschoben habe. T. schildert, dass er immer häufiger nicht nur hier, sondern auch in anderen Internet-Lokalen gechattet habe, auch in den Pausen während seines Dienstes. Er habe den Überblick verloren. „Es ist mir später bewusst geworden, dass es falsch war“, sagt er und „ich begreife mich selbst aus der Rückschau nicht.“