Frank Rominger horcht auf, stellt sein Weinglas ab und schiebt das Hallentor auf, damit man es besser hört. „Das ist Probealarm“, erklärt er. Es klingt, als jaule die Alarmanlage eines Autos. Es folgt ein dumpfes Summen. Die Warnsignale des Atomkraftwerks sind Rominger vertraut wie die Kirchenglocken, er kennt kein Leben ohne. Er wurde 1972 geboren, es war die Zeit, in der die Kernkraft nach Neckarwestheim kam. Seit er denken kann, steigt die Wolke vom Fuße der Weinberge auf.
Frank Rominger betreibt ein Weingut im Norden von Neckarwestheim und sitzt seit 2019 für die Christdemokraten im Gemeinderat, wie vorher sein Vater, der nicht mehr antrat. Nach der Ausbildung zum Weinbautechniker war er längere Zeit in Australien. Die Expertise vom anderen Ende der Welt hat der Wengerter auf seine Etiketten gedruckt: „Vineyards Rominger“. Doch das ist nicht das einzige Detail, das ihn von so manch hiesigem Weinbauern abhebt: Während andere ihre Trauben lieber an die Felsengartenkellerei Besigheim abliefern, wo sie in der Anonymität der Großgenossenschaft verschwinden, steht auf Romingers Flaschen Neckarwestheim. „Ich bin stolz, ein Neckarwestheimer zu sein“, sagt er. „Es kommt ja drauf an, was drin ist.“ Deshalb hat er seinem 16-jährigen Sohn auch gestattet, auf der Internetseite des Weinguts mit dem strahlend sonnigen Neckarwestheim und einem Smiley zu werben.
Es war und ist kein eindeutiges Verhältnis zwischen dem 4200-Einwohner-Dorf und dem Atomkraftwerk, das unter Einheimischen einfach GKN genannt wird – das Kürzel für Gemeinschaftskraftwerk Neckar. Block 1 und Block 2 unten am Fluss hatten nie das Zeug zum Aushängeschild, sagt der Bürgermeister Jochen Winkler. Viel fotogener ist Schloss Liebenstein, das sich märchenhaft an den Hang außerhalb von Neckarwestheim schmiegt – wenn auch mit bester Sicht aufs GKN. Das gehört halt dazu. Oder? Im Besprechungszimmer des Bürgermeisters hängen vier Gemälde vom Schloss, vom AKW dagegen keine Spur. Stimmt, eigentlich gehöre es hierher, sagt Winkler. Es hat den Ort ja reich gemacht.
Der 15. April ist ein historisches Datum für die Atomkraft
Wer zum ersten Mal nach Neckarwestheim kommt und an der Bushaltestelle „Rathaus“ aussteigt, landet gefühlt in den achtziger Jahren. Denn rund um den Marktplatz ist dem Dorf anzusehen, wann hier viel Geld verbaut worden ist. Das Rathaus, eingeweiht 1984, ist der Höhepunkt des hier prägenden Architekturstils. Der Charme dieser Zeit lächelt sogar von der Kaffeetasse des Bürgermeisters: Sie ist verziert mit „Neckarwestheim“ und dem Wappen aus Lorbeerkranz und Spaten. Es wirkt, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ist sie aber nicht.
Der 15. April rückt näher. Es ist ein historisches Datum für die Atomkraft in Deutschland, aber auch speziell für das bisherige Atomdorf im Kreis Heilbronn. Denn dass der Reaktor unten im ehemaligen Steinbruch in wenigen Tagen vollständig und für immer heruntergefahren wird, bedeutet für die Gemeinde oben: Die fetten Jahre sind vorbei.
Die fünf bis zehn Millionen Euro Gewerbesteuer pro Jahr hat seit 1972 vorwiegend das AKW in die Kasse gespült. Nach dem 15. April wird dann ein Kartoffelgroßhändler der größte Gewerbetreibende am Ort sein – ein Pimpf verglichen mit dem Kraftwerk. „Das ist eine ganz andere Ebene“, sagt Bürgermeister Winkler. Noch gebe es üppige Rücklagen, aber die Goldader ist gekappt.
Weil man das nicht erst seit gestern weiß und der Ausstieg schleichend kam, hat man mit der Mäßigung schon 2017 angefangen. „Viele denken, jetzt bricht Neckarwestheim zusammen“, sagt Winkler. Das sei Quatsch. Aber es sei fraglich, wie lange die Gebühren für die Einwohner noch so subventioniert werden könnten wie bislang. Eine Gemeinde, die aus dem Vollen geschöpft hat, muss nun strenger haushalten. „Bei uns war nie die Frage, ob wir bauen, sondern wann“, sagt Winkler.
Nach der Laufzeitverlängerung gönnte man sich etwas Großes
Nachdem Block 1 im Jahr 1976 in Betrieb gegangen war, blühte die Kommune auf. Von damals bis heute hat sich die Einwohnerzahl mehr als verdoppelt. Auch durch Zuzüge, die nichts mit dem GKN zu tun hatten, aber dessen 800 Arbeitsplätze waren definitiv ein Treiber. Die achtziger Jahre nennt der Bürgermeister die „Sturm-und-Drang-Zeit“, besonders als 1989 Block 2 ans Netz gegangen ist und das AKW mit jährlich elf Milliarden Kilowattstunden ein Sechstel des Bedarfs in Baden-Württemberg gedeckt hat.
Die Gemeinde war ein Spiegel dafür, wie sich die Dinge unten im Tal entwickelt haben. Als 2008 beispielsweise die Laufzeitverlängerung kam, gönnte sich Neckarwestheim die Reblandhalle. „Die ist sehr, sehr nobel“, sagt Jochen Winkler , und auch ziemlich protzig für eine so kleine Gemeinde. Die Halle wird die kommenden Generationen daran erinnern, dass man hier früher monetär auf der Sonnenseite lebte. Der Bürgermeister nennt die Halle ein Wahrzeichen. In ihr sollten möglichst viele etwas vom Kuchen abbekommen: eine Kegelbahn, einen Schießstand und ein Musikzimmer für die Vereine.
Positive Grundstimmung in der Bevölkerung
Während das Atomkraftwerk in umliegenden Gemeinden nicht nur Freunde fand, herrschte in Neckarwestheim insgesamt eher Wohlwollen. Das sagt sowohl der Bürgermeister Winkler als auch der Weinbauer Rominger. Obschon in den vergangenen Jahrzehnten keiner mit dem AKW hausieren gegangen sein dürfte, sei die Grundstimmung in der Bevölkerung positiv.
Frank Rominger verknüpft damit auch Kindheitserinnerungen, zum Beispiel als sie mal die Baustelle besichtigen waren. „Das war schon imposant als kleiner Junge.“ Und das Kraftwerk zählte auch sonst zu seinem Kerngebiet. Seine Schlittenbahn war in der Nähe, später hat er mit AKW-Mitarbeitern im Volleyball gebaggert und gepritscht. Angst habe er nie gehabt, sagt Rominger. „Man hat vor allem über die Menschen Vertrauen zum Kraftwerk gewonnen.“ In der Neunten und Zehnten habe er einen Lehrer gehabt, mit dem sie viel und hitzig über die Atomkraft diskutiert hätten. Jahre später habe er ihn mit einem Anti-Stuttgart-21-Schild im Zug getroffen. „Manches ändert sich nie“, sagt er. Rominger war immer pro Atomkraftwerk. „Wenn die Wolke steht, weiß man, dass alles okay ist.“
Wenn Franz Wagner die Wolke sieht, weiß er, dass gar nichts okay ist. „Selbst wenn sie da ist, weiß man nicht, ob seit fünf Minuten der Super-GAU läuft.“ Der 59-Jährige aus Heilbronn mit dem Anti-Atomkraft-Button am Revers würde sich vermutlich bestens mit Frank Romingers Lehrer verstehen. Stuttgart 21 bezeichnet er als „das größte Krebsgeschwür in der Region“. Doch seine Freizeit opfert er vor allem der lachenden roten Sonne auf gelbem Grund: das Zeichen für die Anti-Atom-Bewegung.
Nachts konspirative Aktionen am AKW ausgeheckt
„1980 habe ich kapiert, dass Atomkraft schlecht ist“, sagt er, während er gerade am Ortsausgang von Neckarwestheim an der schmucken Reblandhalle vorbeispaziert. Sein Ziel wie schon Hunderte Male vorher: das AKW in der Senke. Wagner hat hier unzählige Male demonstriert, sich auch nachts in der Gegend herumgetrieben, um konspirative Aktionen auszuhecken. Am 15. April will er auf jeden Fall wieder herkommen – zum Abschaltfest der Gegner. Er ist vorsichtig mit dem, was er an Persönlichem erzählt. Er sagt, er kenne Leute, die würden bedroht. „Bekannte von mir haben richtig viel Ärger.“
Man könnte nun denken: Wenn das Kraftwerk Mitte April herunterfährt, dann endet auch für Franz Wagner und seine Mitstreiter vom Bund der Bürgerinitiativen Mittlerer Neckar eine Ära. „Dann ist zwar ein Riesenproblem weg“, sagt er, doch es gebe trotzdem noch ewig viel zu tun. „Das Thema ist brisant.“ Erstens, weil noch in ganz Europa Atomkraftwerke am Netz seien. Zweitens, weil das Müllproblem bleibe. Und damit hat Wagner recht.
Just zu dem Zeitpunkt, als er am Kraftwerk vorbeimarschiert und erzählt, was ihn mit dem Ort verbindet, gibt die Betreiberin, die EnBW, eine Pressekonferenz. Es geht um den Rückbau, der zehn bis 15 Jahre dauern wird. Und es geht um den radioaktiven Abfall, der hier noch lange bleiben dürfte. Ein Endlager geht nicht vor 2050 in Betrieb.
Wenn Franz Wagner ehrlich ist, würde er manchmal am liebsten aufhören und die rot-gelbe Flagge für immer verstauen. Die Diskussionen, die Kämpfe, die Einsätze bei Nacht und Nebel: „Das alles ermüdet sehr“, sagt er. Sein Problem: „Ich befürchte, dass Schweinereien mit dem Müll passieren.“ In Neckarwestheim haben die Gegner über die Jahre kaum Mitstreiter gesucht. „Was will man mit jemandem diskutieren, der wirtschaftlich mit dem AKW verbunden ist?“
Dem Wengerter blutet das Herz wegen der Atomkraft
Die Neckarwestheimer hängen nicht nur wirtschaftlich am Atomkraftwerk, sondern auch emotional. „Wenn es weg ist, fehlt schon etwas“, sagt der Weinbauer Rominger. Abgesehen davon, dass ihm eh das Herz blute, weil die Atomkraft am Ende sei in Deutschland. Was beispielsweise fehlen wird: die jährlichen Revisionsarbeiten. Wenn circa 1000 zusätzliche Mitarbeiter in den Ort strömten und für drei, vier Wochen blieben. Dann sei hier richtig was los gewesen, sagt Bürgermeister Winkler. Die Vereine luden traditionell zum Revisionsfest, dann rückte die Welt von unten und die von oben bei einem Viertele auf der Bank zusammen.
Eine sichtbare Annäherung auch bei der 900-Jahr-Feier Neckarwestheims vor Kurzem: Eine der Nullen in der Jahreszahl war ein Atomsymbol. „Wir wollen es nicht ausblenden, es gehört zu unserer Orts-DNA“, sagt Winkler. Die gemischten Gefühlen gleiten offenbar ins Nostalgische.
Jochen Winkler will nach vorne schauen. „Als Energiestandort haben wir eine besondere Rolle“, sagt er. Es gebe zwei Freiflächen-Solaranlagen – mit Bürgerbeteiligung. 1200 der 1800 Haushalte seien mit Strom versorgt, es sollen noch mehr werden. „Wir sind nicht oldschool, wir haben uns auch nicht auf der Kernenergie ausgeruht“, sagt er. Das Achtziger-Jahre-Flair im Herzen von Neckarwestheim erzählt noch eine andere Geschichte.