Elfeinhalb Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima will Japan wegen der steigenden Energiepreise verstärkt Atomstrom nutzen.Die Regierung in Tokio will sogar neue Atomkraftwerke bauen.

Es ist nicht lange her, da schien die Atomkraft in Japan ein Auslaufmodell zu sein. Als zu gefährlich galt sie und daher als politisch zu riskant. Nicht einmal die im Land gut vernetzte Atomlobby vermochte es über die vergangenen Jahre, Regierungsvertretern ein unverkrampftes Werben für die Kernenergie zu entlocken. Und auch wenn zuletzt schon wieder zehn von einst 54 Reaktoren ans Netz genommen worden waren, blieb ein Thema ein rotes Tuch: der Bau neuer Atomkraftwerke.

 

Doch diese Zeiten sind vorbei. Nun erklärten Offizielle des Wirtschaftsministeriums in der Hauptstadt Tokio, dass die Regierung inmitten gestiegener Energiepreise und der Angst vor einem Winter mit Energieengpässen keinen Ausweg mehr sehe. Neben einer Laufzeitverlängerung für bereits bestehende Reaktoren von bisher bis zu 40 auf künftig 60 Jahre sollen auch ganz neue – und demnach effizientere sowie sicherere – Kraftwerke gebaut werden. Mit der Atomkraft wolle man sich auf eine Zukunft mit geringer Importabhängigkeit und Umweltbelastung einstellen.

Die Atomkatastrophe vom 11. März 2011

Kaum irgendwo könnte so ein Vorhaben kontroverser, so eine Kehrtwende spektakulärer sein als in Japan. Am 11. März 2011 war das Land von der schwersten Katastrophe seiner jüngeren Geschichte erschüttert worden, als nach einem Tsunami und schweren Erdbeben das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi an der Nordostküste havarierte. In drei der sechs Reaktoren kam es zu Kernschmelzen. Über die Tage nach dem GAU weitete die Regierung immer wieder den Evakuierungsradius aus. Die Gegend im Umkreis von 30 Kilometern um das AKW wurde entvölkert, aber selbst Einwohner, die in 60 Kilometer Entfernung lebten, mussten ihre Ortschaften verlassen.

Die darauffolgenden Monate waren von politischem Chaos geprägt. Für das Land untypisch große Demonstrationen diktierten in Tokio den Takt mit. Der linksliberale Premierminister Naoto Kan kündigte den Ausstieg aus der Atomkraft an, was in der Regierung sofort zu Unstimmigkeiten führte. Als Kan zurückgetreten war, warb zwar auch dessen Nachfolger Yoshihiko Noda für einen Ausstieg, doch Ende 2012 wurde die Demokratische Partei (DPJ) abgewählt – zugunsten der konservativen Liberaldemokratischen Partei (LDP).

Die LDP wiederum trat offen für die Atomkraft ein. Gewählt wurde sie aber eher für das wenig glaubwürdige Versprechen ihres damaligen – und kürzlich einem Attentat zum Opfer gefallenen – Spitzenkandidaten Shinzo Abe, mit einer aggressiven Ausgaben-, lockeren Geld- und Strukturpolitik für eine neue Wachstumsära zu sorgen. Da dieses wirtschaftspolitische Programm – das bald „Abenomics“ genannt wurde und weitgehend erfolglos bleiben sollte – viele Hoffnungen auf sich vereinte, sah das Wahlvolk über die Pläne zur Atomkraft hinweg.

Wiedereinstieg in die Atomkraft

Nachdem auf den Atom-GAU hin alle damals 54 Reaktoren vom Netz genommen worden waren, vollzog die LDP einen zaghaften Wiedereinstieg in die Atomkraft, obwohl die Mehrheit der Bevölkerung seit dem GAU in Fukushima dagegen war. 2014 beschloss die Regierung, schrittweise möglichst viele Atomreaktoren ans Netz zu nehmen. Vor der Katastrophe hatte Japan rund 30 Prozent seines Energiemix aus der Atomkraft bezogen; dieser Anteil war danach verstärkt durch Importe fossiler Brennstoffe aus dem Mittleren Osten ersetzt worden – allerdings galt dies stets als teuer und energiepolitisch unsicher.

Atomkurs in der Bevölkerung unbeliebt

Während die Katastrophengegend evakuiert blieb und Zehntausende ihrer Heimat fernbleiben mussten, erklärte die LDP nur drei Jahre nach dem Atom-GAU, dass die Atomkraft wieder als „wichtige Quelle“ für Japans stabile Stromzufuhr genutzt werden solle. Und als um 2020 diverse Industriestaaten ihre Pläne verkündeten, bis 2050 eine netto-emissionsfreie Volkswirtschaft werden zu wollen, spielte im Vorhaben Japans auch die Atomkraft eine zentrale Rolle.

Das Festhalten an der Atomkraft war bei der Bevölkerung stets unbeliebt. Auch die angeblichen strengeren Sicherheitsstandards für die Reaktoren und eine strukturelle Neuorganisation der Aufsichtsbehörden änderten wenig daran. Aber als in diesem Frühjahr wegen der Invasion der russischen Regierung in die Ukraine die Energiepreise empfindlich zu steigen begannen, kippte die Stimmung. Im April ergab eine Umfrage der Wirtschaftstageszeitung „Nikkei“ erstmals seit 2011, dass eine Mehrheit nun für die Nutzung der Atomkraft war.

Auch in Japan sind die zwei wichtigsten Fragen ungelöst

Seither hat sich die Lage der Energiepreise kaum beruhigt. Die japanische Regierung dagegen hat weitere Schritte unternommen, um einen Wiedereinstieg in die Atomkraft zu beschleunigen. Derzeit speisen sich nur rund fünf Prozent des Energiemix aus Atomkraft; bis zum Jahr 2030 soll dieser Anteil nun wieder auf 22 Prozent steigen. Allerdings besteht die Gefahr, dass das zuletzt gestiegene öffentliche Vertrauen in die Kernenergie bald wieder sinkt.

Denn zum einen ist da die Frage der Unfallgefahr, die durch den Bau neuer Reaktoren und die Aufwertung älterer Kraftwerksgenerationen zwar reduziert werden soll. Aber in den Augen von Kritikern läuft schon die aktuelle Eile bei der Wiederinbetriebnahme bereits gebauter Reaktoren dem Versprechen erhöhter Sicherheitsbestimmungen zuwider. Und zum Zweiten hat man auch in Japan bis zum heutigen Tag keine Antwort auf die Frage gefunden, wie mit den täglich zunehmenden Mengen von hochradioaktivem Atommüll dauerhaft umgegangen werden soll.