Nach dem Desaster im Atomkraftwerk in Fukushima erwägt Japan, die Kernkraft zumindest zum Teil durch erneuerbare Energien zu ersetzen.  

Tokio - Seit dem Unfall im Kernkraftwerk Fukushima I mangelt es in Japan an Energie. Zunächst einmal helfen Sparmaßnahmen und Gasimporte aus. Doch mittlerweile wird die gesamte Energiestrategie überarbeitet.

 

Die Gänge von Behörden und Ministerien in Tokio sind ungewohnt schummrig. Nur jede dritte Lampe brennt. Blickt man abends über die Megastadt, so wirkt die glitzernde Silhouette immer noch ein wenig matter als früher. In den U-Bahn-Stationen hängen heiter wirkende Plakate, mit denen die Bevölkerung zum Energiesparen aufgerufen wird. Die energiehungrige Hauptstadt Japans zollt dem „dreifachen Desaster“ – Beben, Tsunami und Kernkraftunfälle vom März 2011 – auch jetzt noch ihren Tribut.

Nur neun der 54 Kernreaktoren des Landes laufen planmäßig und liefern Strom. Mit großen gemeinsamen Anstrengungen ist Japan durch den vergangenen heißen Sommer gekommen, als der Stromverbrauch durch die Klimaanlagen hochschnellte. In Tokio und im Nordosten der Hauptinsel wurde der Bedarf durch Sparmaßnahmen um 15 Prozent gesenkt, viele Unternehmen verlegten Betriebsschichten auf das Wochenende, um zeitliche Verbrauchsspitzen zu glätten.

Auf Japans Straßen wird nur zaghaft demonstriert

Sorgen bereitet Planern der kommende Sommer. Denn dann könnte es zur Abschaltung auch der restlichen Reaktoren kommen, wenn die vorgesehenen Wartungstermine eingehalten werden. Die Stromlücke wäre dann größer als im vergangenen Sommer.

„Wir müssen die Energiestrategie Japans von Grund auf revidieren“, sagt Yuki Sadamitsu ruhig. Er ist der Direktor des Büros für Energiestrategie im METI, dem mächtigen Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie. Die alte Energiestrategie Japans, der „Basisenergieplan“, war erst im vergangenen Jahr auf den neuesten Stand gebracht worden, doch heute liest sich der Plan wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Bis 2030 sollten 14 Kernreaktoren neu gebaut oder erweitert werden. Davon ist jetzt keine Rede mehr.

Selbst wenn auf den Straßen des Landes nur zaghaft demonstriert wird – viele Menschen hegen nun Misstrauen gegenüber den Betreibern der Kernkraftwerke und würden die Technologie am liebsten wieder loswerden. Allgemein wird erwartet, dass Japan seine Abhängigkeit von der Kernkraft verringert.

Andere Energieversorgung als in Europa

Japans Energieversorgung unterscheidet sich fundamental von der in europäischen Ländern. Der Archipel ist ganz auf sich allein gestellt, es gibt nicht einmal ein verbindendes Stromkabel zwischen Japan und Südkorea. Außerdem kann Japan weder Strom aus Südkorea noch Gas aus Russland importieren, weil die politischen Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg so angespannt sind, dass entsprechende energiewirtschaftliche Kooperationen bisher nicht zustande kamen. Technisch wäre beides ohne Weiteres machbar. Nicht zuletzt wegen der Insellage hatte Japan nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Kernkraft gesetzt, die eine maximale Energieausbeute pro importierter Brennstoffmenge versprach.

Jetzt verlegt sich Japan aufs Energiesparen und die Einfuhr von Erdgas. Industriebetriebe gehen ohnehin sehr effizient mit Energie um, aber in den Privathaushalten und in Büros gibt es laut Ken Koyama, Chefökonom des von Staat und Wirtschaft geförderten Institute of Energy Economics in Tokio, noch Potenzial, um den Energieverbrauch zu mindern. Für das Jahr 2012 erwartet Koyama einen Anstieg der Flüssiggasimporte von 70 auf 90 Millionen Tonnen.

Neuer Basisenergieplan soll im Sommer 2012 stehen

Wie Japan so sein Klimaziel einhalten soll, ist derzeit völlig schleierhaft. Vor zwei Jahren hatte die Regierung angekündigt, den Treibhausgasausstoß bis 2020 um 25 Prozent senken zu wollen. Durch den erhöhten Verbrauch fossiler Brennstoffe wird der Ausstoß von Kohlendioxid im nächsten Jahr aber voraussichtlich auf 1,26 Milliarden Tonnen zunehmen. Das wären 18,7 Prozent mehr als im Jahr 1990, dem Bezugsjahr des Kyoto-Protokolls.

Der neue Basisenergieplan soll im Sommer 2012 stehen. Um den zukünftigen Energiemix Japans zu bestimmen – und den ehrgeizigen Zeitplan einhalten zu können –, muss bald klar sein, wie es mit der Kernkraft weitergeht. Mehrere Ausschüsse befassen sich mit dem Thema. „Wir wollen die Bevölkerung einbeziehen“, sagt der METI-Stratege Sadamitsu. Zu diesem Zweck wurde ein Komitee gegründet – das sogenannte Fundamental Policy Committee. Dem neuen Gremium gehören nicht nur Befürworter der Kernkraft an, sondern auch Kritiker. Es sei das erste Mal, dass deren Auffassung vom METI auf diese Weise berücksichtigt werde, sagt Sadamitsu. Allerdings hat das neue Gremium, das von dem Direktor der Nippon Steel Corporation geleitet wird, bloß eine beratende Funktion.

Kritiker im Komitee

Einer der Kritiker in dem Komitee ist Kenichi Oshima, Professor für Umweltpolitik an der Ritsumeikan-Universität in Kyoto. Er hat zum Beispiel einmal die versteckten Kosten der Kernkraft untersucht und hält die Energiequelle aufgrund seiner Studie keineswegs für so preisgünstig, wie dies von den Betreibern immer behauptet wird. Oshima hat keine gute Meinung von dem Komitee. Bisher habe es noch keine echte Diskussion gegeben. Seiner Ansicht nach müsste das Verfahren drastisch verbessert werden. Jedenfalls sei das Komitee bestimmt nicht repräsentativ für die Meinungen, die in der japanischen Bevölkerung vertreten würden.

Was die Sicherheit der Kernkraft angeht, hat sich in Japan inzwischen weithin die Einschätzung durchgesetzt, dass die Atomaufsicht vor den Unfällen grundlegende organisatorische Mängel hatte. „Bisher waren die Verwaltung, die Wirtschaft und die Aufsicht bei der Kernenergie zu eng miteinander verknüpft“, räumt Sadamitsu ein. Die Nuclear and Industrial Safety Agency (die staatliche Atomaufsichtsbehörde) untersteht bis jetzt dem Wirtschaftsministerium METI. Sie wird nun aufgelöst. Die künftige Sicherheitsbehörde soll unter dem Dach des Umweltministeriums entstehen.

Das Desaster hat Japan aufgerüttelt

Einen kompletten Ausstieg aus der Kernenergie hält der Umweltminister Goshi Hosono für „schwer vorstellbar“. Ein großer Teil der Wirtschaftselite scheint ähnlich zu denken. Dennoch will Japan auf längere Sicht verstärkt erneuerbare Energiequellen wie Geothermie und Offshore-Windparks nutzen. Vorerst werde, so Hosono, der Schwerpunkt aber auf Forschung und Entwicklung liegen. Erst wenn sich herauskristallisiert habe, welche Technologie sich am besten eigne, solle eine Auswahl getroffen werden.

Zurzeit werde ungefähr ein Zehntel der Primärenergie aus erneuerbaren Quellen gewonnen, sagt METI-Direktor Sadamitsu. Der alte Basisenergieplan sah vor, diesen Anteil bis 2030 auf 20 Prozent auszubauen – ein Ziel, das nun auf jeden Fall höher gesteckt werden soll. Auch in diesem Bereich zeichnet sich ein Wandel ab. Das Desaster hat Japan aufgerüttelt.

Chronologie der Katastrophe

11.03.2011 Die Reaktoren werden nach dem Erdbeben sofort abgeschaltet. Bald fallen die Notstromaggregate aus.

12.03.2011 Explosion im Reaktorblock 1. Es wird versucht, mit Meerwasser zu kühlen.

14.03.2011 Explosion in Reaktorblock 3.

15.03.2011 Explosion in Reaktorblock 2. Brand in Reaktor 4.

24.5.2011 Der Betreiber Tepco gibt zu, dass es in drei Reaktoren zu einer Kernschmelze gekommen ist.

19.03.2011 Das Trinkwasser enthält radioaktives Jod.

7.12.2011 Dekontaminierung der Sperrzone beginnt.