Anaïck Geißel hat ein Jahr lang als UN-Jugenddelegierte die Interessen deutscher Jugendlicher vertreten. Die Lehramts-Studentin ist seit vielen Jahren politisch aktiv in der Stadt. Gerade ist sie auf dem Weg nach New York zur nächsten UN-Sitzung.

S-Mitte - Anaïck Geißel muss sich manchmal selbst bremsen. Wenn sie mitten in ihrem Redefluss merkt, dass ihr Gegenüber sie immer fragender anschaut, realisiert sie, dass sie die eine oder andere Redewendung oder Abkürzung aus dem internationalen Politikbetrieb vielleicht doch erklären muss, wenn sie verstanden werden will. Dann hält sie inne, denkt kurz nach und erzählt gleich darauf nicht unbedingt langsamer, dafür verständlicher weiter. Sie hat viel zu erzählen, die 23-Jährige Lehramtsstudentin aus Stuttgart: Sie ist seit einem Jahr eine von zwei deutschen Jugenddelegierten bei den Vereinten Nationen (UN), hat Monate lang quer durch Deutschland Jugendliche getroffen, schon vor den Vereinten Nationen gesprochen und ist jetzt wieder auf dem Weg nach New York, um dort eine Rede vor der UN-Sozialentwicklungskommission zu halten.

 

Der Landtag wird zum UN-Hauptquartier

Wie um alles in der Welt wird man UN-Jugenddelegierte? Die Frage drängt sich geradezu auf und lässt sich im Fall von Anaïck Geißel so beantworten: durch jahrelanges, vielfältiges politisches Engagement. Sie ist seit Jahren Mitglied bei den Jusos Stuttgart, also bei der Nachwuchsorganisation der SPD. Dort war sie zeitweise auch Vorstandsmitglied. Aktuell ist sie dort in der Juso-Hochschulgruppe Uni Stuttgart aktiv, vor ihrer Zeit als Jugenddelegierte engagierte sie sich sowohl im Studierendenparlament als auch im Senat der Uni. Von 2009 bis 2013 war Anaïck Geißel im Jugendrat Stuttgart-Mitte und brachte in dieser Zeit die Umgestaltung des Platzes hinter dem Züblin-Parkhaus zu einem Treffpunkt für Jugendliche mit auf den Weg. Eine wichtige Rolle gerade im Hinblick auf Zeit als UN-Jugenddelegierte spielt aber ihre Mitgliedschaft bei DMUN, einer dieser erklärungsbedürftigen Abkürzungen, die Anaïck Geißel wie selbstverständlich verwendet. DMUN bedeutet „Deutsche Model United Nations“, ist ein gemeinnütziger Verein für junge Erwachsene, „die sich für internationale Politik und die Vereinten Nationen begeistern“. Der 2003 gegründete Verein veranstaltet regelmäßig „politische Planspiele, bei denen Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 15 und 21 Jahren eine Konferenz der Vereinten Nationen simulieren“, auch in Stuttgart. In diesem Jahr wird der Landtag von 14. bis 18. Juni wieder zum – nachgespielten – UN-Hauptquartier werden.

Zu DMUN kam Anaïck Geißel in ihrer Zeit am Dillmann-Gymnasium, wo sie Abitur machte. Sie nahm regelmäßig an den Planspiel-Konferenzen teil und beschäftigte sich mit so aktuellen Themen wie dem Konflikt in Syrien. DMUN ist seit 2012 „als Nichtregierungsorganisation mit speziellem Beraterstatus beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen sowie beim UNDPI (UN Department of Public Information)“ akkreditiert. „Meine Leidenschaft liegt in der politischen Jugendbildung“, sagt Anaïck Geißel über sich selbst. „Und es ist mir wichtig, bereits existierende Partizipationsmöglichkeiten auszunutzen, um der Stimme der Jugend Gehör zu verschaffen.“ Also arbeitete sie beispielsweise 2015 im Vereins-Ausschuss für die UN-Frauenrechtskommission mit und bewarb sich – „Ich wollte etwas bewegen“ – 2016 als Jugenddelegierte.

Nach der Entscheidung „zwei Tage nur gegrinst“

Deutschland hat seit 2005 jedes Jahr zwei Jugenddelegierte, die die deutsche Delegation zur UN-Generalversammlung begleiten. Ausgeschrieben werden die beiden „Stellen“ jedes Jahr im Herbst vom Deutschen Nationalkomitee für Internationale Jugendarbeit (DNK, Dachorganisation der Jugendverbände) und der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Die Voraussetzungen für eine Bewerbung: 18 bis 25 Jahre alt, deutsche Staatsangehörigkeit, gute Englisch-Kenntnisse und Engagement in einem Jugendverband. Anaïck Geißel überstand das mehrstufige Auswahlverfahren mit einer schriftlichen Arbeit, einem Telefoninterview und einem Wissenstest und wurde als eine von sieben verbliebenen Kandidatinnen und Kandidaten zu einem zweitägigen Auswahlprozess nach Berlin eingeladen. „Ich fand das Wochenende vor knapp einem Jahr sehr spannend“, sagt sie über die zwei Tage. „Ich hätte aber nicht gewusst, wen von uns ich auswählen soll.“ Als sie dann – zusammen mit Mio Kuschick aus Erlangen – ausgewählt wurde, „habe ich zwei Tage lang gegrinst.“

Im vergangenen Jahr ist die Stuttgarterin durch Deutschland gereist und hat in Schulen oder bei Verbänden mit Jugendlichen über alle möglichen Themen diskutiert. Dabei wurde klar, dass den deutschen Jugendlichen qualitativ hochwertige Bildung für alle und die Möglichkeit zur aktiven Teilnahme an der Gesellschaft besonders wichtig ist. Das gab Anaïck Geißel in ihrer Rede bei den Vereinten Nationen im Oktober weiter und wird es jetzt bei der UN-Sozialentwicklungskommission wieder tun. Diesmal will sie sich besonders für Menschen mit Behinderung, Homosexuelle und Trans-Menschen einsetzen.

Mit diesem Auftritt endet Anaïck Geißels Zeit als deutsche Jugenddelegierte dann auch bald, im März ist Schluss. Bereut hat sie die Zeit mit zum Teil drei Terminen pro Woche in ganz Deutschland nie. „Ich hatte nie den Moment, alles hinzuschmeißen.“ Studieren konnte sie in der Zeit allerdings nur wenig. „Mein Studium wird sich deswegen um ein Jahr verlängern.“ Ob sie dann auch tatsächlich Lehrerin werden will, wird sich zeigen. „Ich hatte schon lange den Plan, Lehrerin zu werden. Jetzt bin ich aber unschlüssig geworden.“ Sie würde ihre Begeisterung und Leidenschaft gerne an andere weitergeben – und könnte sich inzwischen durchaus vorstellen, sich in Richtung Höherer Dienst im Auswärtigen Amt zu orientieren.