Träger und Immobilienexperten warnen vor einer Unterversorgung mit Heimplätzen. Die ab September 2019 greifende Einbettzimmerquote dürfte regional schon jetzt bestehende Engpässe verschärfen, sagen sie.

Stuttgart - Privatsphäre ist ein hohes Gut im Pflegeheim. Wer dort schon Erfahrungen gesammelt hat, etwa als Angehöriger eines pflegebedürftigen Menschen, wird das bestätigen. Jahrzehntelang war es die Regel, im Pflegefall aus den eigenen vier Wänden in ein Zweibettzimmer umziehen zu müssen und dort auf einen wildfremden Menschen zu treffen – Einzelzimmer gab es im Pflegeheim nur gegen Aufpreis.

 

Inzwischen jedoch verändern sich stationäre Einrichtungen. Der Trend geht zum Einbettzimmer. Gerade auch in Baden-Württemberg, das diesen Trend so entschieden wie kein anderes Bundesland per Gesetz beschleunigt hat. 2009 wurde unter der Regie der damaligen Sozialministerin Monika Stolz (CDU) eine neue Landesheimbauverordnung beschlossen, der zufolge es in Pflegeheimen und in Heimen für Menschen mit Behinderung nur noch Zimmer mit einem Bett geben darf. Nach einer Übergangszeit von zehn Jahren tritt die Regelung, die für Neu- und Bestandshäuser gilt, am 1. September 2019 in Kraft. Zweibettzimmer sind dann nur noch ausnahmsweise erlaubt.

So begrüßenswert die Vorgabe auch sein mag mit Blick auf die Privatsphäre der Menschen – Branchenkenner sehen mit viel Skepsis auf den Stichtag. Das auf Sozialimmobilien spezialisierte Makler- und Beratungsunternehmen Terranus mit Sitz in Köln rechnet vor, dass 16.500 Pflegeplätze im Südwesten wegfallen. Das würde einem Abbau von mehr als 15 Prozent entsprechen. „Pflegebedürftige werden sich über Einzelzimmer freuen, aber für die künftige Versorgungssituation in Baden-Württemberg ist die Einbettzimmerquote katastrophal“, urteilt Hermann-Josef Thiel, Geschäftsführer der Pflegeheim-Beratung bei Terranus.

Aktuell von 33.000 Plätze in Doppelzimmern

Die Rechnung geht, basierend auf Zahlen des Statistischen Landesamts, so: Derzeit sind im Südwesten 108.000 Pflegeplätze verfügbar, 33.000 davon in Zweibettzimmern. Ein Umbau in zwei Einbettzimmer sei in der Regel nicht möglich, da Mindestgrößen nicht eingehalten werden könnten oder bauliche Voraussetzungen nicht gegeben seien. Gehe man deshalb davon aus, dass Zweibettzimmer künftig nur von einer Person belegt werden, halbiere sich die Platzzahl, so Terranus.

Das Unternehmen verweist zudem auf ungünstige Rahmendaten. So seien stationäre Pflegeplätze schon heute knapp. Heime in Baden-Württemberg arbeiteten mit einer Auslastung von 94 Prozent bereits an der Grenze ihrer Kapazität. Zugleich gebe es immer mehr Menschen, die stationär versorgt werden müssen. Drei Prozent habe der Nachfragezuwachs durchschnittlich in den vergangenen sechs Jahren betragen. Neue Pflegeplätze, die den steigenden Bedarf – bei gleichzeitigem Abbau ab 2019 – decken könnten, seien nicht in Sicht. Seit 2011 habe die Zubaurate nur durchschnittlich 1,4 Prozent oder knapp 1390 Plätze betragen.

Das Land widerspricht dem Katastrophenszenario. „In absehbarer Zeit wird es in Baden-Württemberg keinen Notstand an Pflegeheimplätzen geben“, teilt das Sozialministerium mit. Die Nachfrage sei „vor dem Hintergrund aktueller Prognosen bis mindestens 2030 gedeckt“. Trotz Platzverlusten durch die Umsetzung der Einzelzimmervorgabe sei in den vergangenen Jahren ein Zuwachs bei den Plätzen zu verzeichnen gewesen.

Träger fordern neues Förderprogramm

Große Heimträger wie die Evangelische Heimstiftung (EHS) zeigen sich dennoch alarmiert. Von den derzeit 6650 Pflegeplätzen der EHS sind 5800 in Einzel- und noch 850 in Doppelzimmern. Über kurz oder lang werden 425 Plätze in Doppelzimmern wegfallen, kündigt der Träger an. Für die übrigen gelten Ausnahmeregelungen, etwa dann, wenn die Zimmer über 22 Quadratmeter groß sind. „Wir begrüßen die Einzelzimmer-Vorgabe ausdrücklich“, sagt Hauptgeschäftsführer Bernhard Schneider. Man habe vor vielen Jahren bereits damit begonnen, das Angebot dem veränderten Bedarf von pflegebedürftigen Menschen anzupassen. Gebaut würden deshalb ausschließlich größere Einzelzimmer, Wohngruppen und betreute Wohnungen. Bis 2021 entstünden so allein rund 1700 zusätzliche Pflegeheimplätze. Damit nehme die EHS ihre Verantwortung als gemeinnütziges Pflegeunternehmen wahr.

Mit Blick auf das Land allerdings malt Schneider schwarz. Schon heute gebe es in manchen Landesteilen eine „dramatische Unterversorgung“, in wenigen Jahren indessen werde das für ganz Baden-Württemberg gelten. Bis 2030 sieht Schneider einen zusätzlichen Bedarf von bis zu 50.000 Pflegeplätzen. Pro Platz sei einer Investitionssumme von 125.000 Euro zu rechnen. „Das bedeutet ein gewaltiges Investitionsvolumen, das nur in gemeinsamer Verantwortung und im Rahmen einer aktiven Pflegestrategie von Land, Kommunen und Pflegeheimträgern bewältigt werden kann“, erklärt Schneider.

Seit Jahren fordert die EHS ein neues Pflegeheimförderprogramm des Landes von 100 Millionen Euro jährlich. Das letzte Programm lief 2011 aus. „Unsere Sozialpolitik engagiert sich so gut wie nicht mehr für die pflegerische Infrastruktur“, so Schneider. Die Politik werde zwar nicht müde zu versichern, wie wichtig die Pflege ist. „Aber wenn es ans Geld geht, bleibt die Schatulle der Finanzministerin zu.“ Die Verantwortung für die Schaffung neuer Heimplätze werde allein Heimträgern und Pflegebedürftigen zugeschoben, „die das alles letztlich bezahlen müssen“.

Fachkräftemangel verschärft die Situation

Auch die Caritas in der Diözese Rottenburg-Stuttgart erwartet mittelfristig Versorgungsengpässe. Zum einen wegen des Fachkräftemangels, zum anderen wegen des Abbaus von Doppelzimmern. „Aus manchen Gegenden wird bereits heute berichtet, dass stationäre Einrichtungen deshalb geschlossen wurden oder kurz vor der Schließung stehen“, sagt Marlies Kellmayer von der Caritas. Altenhilfeträger seien trotz vorhandener Wartelisten für einen Heimplatz von örtlich bis zu sechs Monaten sehr verhalten, was die Schaffung zusätzlicher Plätze anbelangt. Kellmayer führt dies auch darauf zurück, dass Politik und Gesetzgeber aktuell eindeutig auf die ambulante und vorstationäre Pflege setzen. Selbst ein Pflegeheimförderprogramm könnte die momentane Zurückhaltung nicht auflösen, glaubt sie.

Arnd von Boehmer, Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt Württemberg, rechnet ebenfalls mit einem Abbau von Pflegeplätzen durch die Einzelzimmervorgabe. Kleineren Einrichtungen, vorrangig privat geführt, sei die Anpassung oft baulich oder finanziell nicht möglich. Sie müssten dann schließen. Größere Häuser dagegen müssten tief in die bauliche Substanz eingreifen und hätten hinterher weniger Plätze, wenn sie nicht gleich anbauen.

In Ballungsräumen wie Stuttgart sei es zudem für Träger, die neue Einrichtungen konzipieren wollen, immer schwieriger, geeignete Grundstücke zu finden. Steigende Baukosten seien ebenfalls ein Problem, da sie sich auf die späteren Heimkosten auswirken. Im Ergebnis würden deshalb immer mehr Heimbewohner in die Sozialhilfe rutschen, erklärt von Böhmer. Aus diesem Grund würde er eine Wiederaufnahme der Landesförderung befürworten. Es handelte sich dann um eine „sozialpolitische gewollte Vorabsubvention, um die Heimkosten in Grenzen zu halten“.