Stuttgart ist kreativ. Andere Städte sind es auch. Stuttgart sollte offen sein für Ideen – ob sie aus der Bürgerschaft kommen oder von außerhalb, findet Lokalchef Jan Sellner.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Wann hat eine Stadt Charakter? Wenn sie nicht ständig nach anderen schielt. Wenn sie um ihre eigenen Vorteile weiß und ihre Unzulänglichkeiten bearbeitet. Eine Stadt mit Charakter ist selbstbewusst, jedoch nicht überheblich. Sie macht sich nicht großstädtischer, als sie ist, aber auch nicht kleiner. Sie lernt von anderen, ohne sich mit anderen zu vergleichen. Über die ewigen Rankings „München hat . . .“, „Frankfurt kann . . .“ lächelt sie. Denn dahinter verbergen sich oft Neid und fehlendes Selbstwertgefühl.

 

Stuttgart, man muss es betonen, ist eine Stadt von eigener Qualität – wie jede Stadt. Und wie jede Stadt, die bestrebt ist, die Lebensqualität ihrer Bürger zu verbessern, zeigt sich Qualität unter anderem darin, offen zu sein für Ideen, die in ihrer Bürgerschaft entstehen oder die von außen kommen, weil andere Städte eben auch Charakter und Ideen haben.

Viele Städte erzählen ihre Geschichte

Schon deshalb ist es ein Gewinn, unterwegs zu sein. Wo man hinkommt, macht man Entdeckungen, weniger im Großen – auf ein Patentrezept gegen die Wohnungsnot darf man bei einer Deutschlandtour nicht hoffen – , dafür im Kleinen. Lüneburg zum Beispiel hat einen Stadtplan für Kinder entwickelt: In Kindersprache werden die örtlichen Sehenswürdigkeiten erklärt. Das kann man sich auch digital vorstellen. Überhaupt fällt auf, wie viele Städte selbsterklärend sind. Sie erzählen ihre Geschichte. Sie versehen ihr Stadtbild mit Schrift – in Form von Geschichtstafeln. Auffallend Bremen und Wurzen. In Stuttgart geizt man mit Worten. Der Gast erfährt im öffentlichen Raum wenig über das, was hier war und ist.

Kleine Entdeckungen anderswo: Dazu gehören die Rollstuhlplätze in der Elbphilharmonie. Klar kann man das bei den Baukosten erwarten, aber man muss auch daran denken. Hamburg hat daran gedacht, und wenn demnächst in Stuttgart die Oper saniert wird, dann wird hier auf ein Angebot für Menschen mit Behinderung zu achten sein – bereits beim Ausweichquartier, wo immer es stehen wird.

„Schau nicht weg“

Stuttgart ist kreativ. Andere sind es auch. Wer beim Hackeschen Markt in Berlin ins Schaufenster einer japanischen Modekette schaut, die auch in Stuttgart Fuß fasst, blickt auf die Büste eines Obdachlosen – ein Projekt der Berliner Stadtmission. Darunter stehen die Worte: „Mein Name ist Jürgen. Ich bin einer von vielen Tausend Obdachlosen in Berlin. Mich hat der Künstler Harald Birck modelliert. Nimm mich wahr. Schenk mir ein Lächeln. Schau nicht weg.“ Ein Gedankenanstoß, wo man ihn nicht vermutet.

Etwas ganz anderes: Auf der „Alten Liebe“ in Cuxhaven, wo die Elbe in die Nordsee mündet, gibt es ehrenamtliche „Schiffsansager“, die per Lautsprecher darüber informieren, welches Schiff gerade vorbeifährt. Vielleicht wäre das auch was für den Neckar, vielleicht bliebe dann jemand an dem meist trostlosen Ufer stehen und würde zuhören: „Neckarabwärts fährt gerade die so und so. Sie hat das und das geladen.“ Aber ach, der Neckar! Man müsste auswärtigen Besuchern erst mal erklären, warum sich Stuttgart „Stadt am Fluss“ nennt, aber keine Uferpromenade hat. Man versteht’s ja selbst nicht.

Entdeckungsreisen sind was Schönes. Wenn Sie, liebe Leser, von einer zurückkehren, würde uns interessieren, welche positiven Entdeckungen Sie anderswo gemacht haben. Wir greifen sie gerne auf und lassen Stuttgart darüber diskutieren.

jan.sellner@stn.zgs.de