Im Zuge der Talibanhysterie nach dem 11. September wurde Khaled el-Masri von der CIA verschleppt. Er wartet noch immer auf eine juristische Genugtuung. Am Donnerstag soll der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg sein Urteil fällen.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Kempten - Ob er das in seiner Zelle in der JVA Kempten überhaupt noch registriert? Vor ein paar Jahren, als Khaled el-Masri über sich und sein Schicksal redete und den Beistand der Medien und Juristen suchte, wäre er elektrisiert gewesen von der Frage, welches Urteil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg fällen wird. Die Richter werden darüber befinden, ob der Staat Mazedonien sich der Beihilfe zu Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht hat. Die stiftungsfinanzierte US-Juristenorganisation Open Society hatte den Prozess ins Rollen gebracht. Wird Mazedonien schuldig gesprochen, wäre das ein später Sieg für Khaled el-Masri im zermürbenden Kampf um seine Glaubwürdigkeit.

 

Die Fakten: am 31. Dezember 2003 wird der Neu-Ulmer, der den deutschen Pass besitzt, am Grenzübergang Tabanovce nach Mazedonien aus einem Reisebus geholt. Tagelang wird er in einem Hotel in Skopje festgehalten und nach seinen Verbindungen zur radikalislamistischen Szene befragt. In Neu-Ulm war el-Masri regelmäßiger Besucher der verbotenen Moschee Multikulturhaus gewesen, in der sich eine große Radikalenszene gesammelt hatte. Schließlich wird er von mazedonischen Bewachern an eine Gruppe von CIA-Mitgliedern übergeben, die ihn, bewusstlos gespritzt, in einem als Passagiermaschine getarnten Jet nach Afghanistan fliegen und in einen eiskalten Kerker bei Kabul werfen. Fünf Monate dauern die Verhöre el-Masris, bis er in den Hungerstreik tritt. Am 28. Mai 2004 wird der offenkundig ahnungslose Gefangene in Nordalbanien aus einem Fahrzeug gestoßen.

Es ist sicher, dass der Neu-Ulmer von der CIA verschleppt wurde

Längst gibt es einen weiteren ehemaligen CIA-Gefangenen, der bezeugt, mit el-Masri im afghanischen Gefängnis Kontakt gehabt zu haben. Haar-Laboranalysen aus dem Jahr 2004 beweisen eine starke Unter- und Mangelernährung über einen längeren Zeitraum. Es gibt die Stempel der mazedonischen und albanischen Zollbehörden im Pass des Neu-Ulmers, die den Grenzübertritt dokumentieren.

Die Klarnamen der US-Entführer, recherchiert durch einen spanischen Journalisten, liegen bei der Staatsanwaltschaft München I. Es gibt Daten über die Entführungsmaschine und ihre Flugroute. Im Januar 2007 erwirkt die bayerische Ermittlungsbehörde 13 Haftbefehle. Auslieferungsanträge an die USA werden, wegen der fehlenden Aussicht auf Erfolg, wie es heißt, nicht gestellt.

Im November 2010 enthüllen US-Botschaftsdepeschen, veröffentlicht durch Wikileaks, was sich nicht mehr leugnen ließ. In einer Depesche, datiert vom 6. Februar 2006, freut sich der US-Protokollant nach einem Gespräch mit dem damaligen mazedonischen Premierminister Vlado Buckovski: „Die Regierung von Mazedonien wird den Kopf unten und die Deckung oben halten, was die Anschuldigungen betrifft, Mazedonien habe die US-Regierung im Fall el-Masri unterstützt.“

Unschuldig monatelang in Afghanistan eingekerkert

Ende 2010 ist Khaled el-Masri, der von seiner Einreise nach Deutschland 1994 bis Dezember 2003 friedlich gelebt hatte, längst selber zum Wiederholungsstraftäter geworden. Im Mai 2006 war er mit einer Klage auf Entschädigung vor einem US-Bundesgericht gescheitert. Es wird gar nicht erst verhandelt, weil der Gegenstand des Verfahrens in einem öffentlichen Prozess, so die Begründung, die Sicherheit der Vereinigten Staaten gefährden würde.

Irgendwann nach 2006 driftet der in Neu-Ulm isolierte, von Sozialhilfe lebende und immer wieder offen auf der Straße angefeindete Vater von sechs Kindern, der eine bekannte Medienfigur ist, in eine eigene Gedankenwelt ab. Ängste und Aggressionen beginnen ihn zu beherrschen. Er schlägt, im Rahmen einer ihm verordneten Arbeitsfortbildungsmaßnahme, einen Dekra-Fahrprüfer nieder, der ihn tadelte. Kurz darauf, am 17. Mai 2010, zündet er nachts einen Supermarkt in Neu-Ulm an, in dem er zuvor Hausverbot bekommen hatte. Vor dem Memminger Richter begründet el-Masri später die Brandstiftung damit, er habe „der CIA oder dem BND“ eine Lektion erteilen müssen.

Der Richter ist überzeugt, ein traumatisiertes Folteropfer vor sich zu haben; er verhängt eine Bewährungsstrafe. El-Masri verwirkt sie, kurz vor ihrem Ablauf, am 11. September 2009, als er den Neu-Ulmer Oberbürgermeister niederschlägt und verletzt. Wie immer stellt er sich danach freiwillig. El-Masri behält im Prozess seine Motive für sich. Er hat sich auch äußerlich verändert, trägt Zopf und Vollbart, verweigert sich jedem Versuch einer Befragung, starrt vor sich hin. „Macht, was ihr wollt“, stößt er hervor, als er aus dem Gerichtssaal geführt wird.

Schwer traumatisiert lebt er in einer Wahnwelt

El-Masri muss für zwei Jahre ins Gefängnis. Eine Therapeutin, die den Angeklagten eine Zeit lang behandelt hatte, sagt aus, sie habe eine drohende Eskalation bemerkt. Ein gerichtlich bestellter Gutachter bescheinigt dem Angeklagten die volle Schuldfähigkeit, er sei nicht als krank oder wahnhaft einzustufen. Er kommt nach Kempten. Seine Familie verlässt Deutschland. Im Juli 2010 schlägt der Häftling einem Vollzugsbeamten auf den Kopf, der Mann ist mehrere Monate dienstunfähig. Die Strafe wird um vier Monate verlängert.

Eine Verurteilung Mazedoniens durch den Gerichtshof wäre spektakulär. Zum ersten Mal würde ein Staat wegen der Beihilfe zum sogenannten Rendition-Programm der US-Regierung, also den weltweiten Entführungsflügen des CIA-Geheimdienstes, verurteilt werden. Für den EU-Beitrittskandidaten Mazedonien, der auf die Zugehörigkeit zur EU dringt, wäre das ein diplomatischer Schlag. Die Regierung käme in Handlungsnot.

Aus Kempten dringt nichts. „Es gibt keine Kommunikation zwischen ihm und der Anstaltsleitung“, sagt der Gefängnisleiter Gisbert Rehmet. „Ich weiß nicht, was in seinem Kopf vorgeht.“ Auf die Frage, ob der Häftling, der im nächsten Jahr wieder freikommt, psychiatrisch betreut wird, gibt es eine kurze Antwort: „Nein.“