Das Landessozialgericht Stuttgart hat es immer häufiger mit einer Arbeitswelt im Wandel zu tun: Wie sind Beschäftigte versichert, wenn sie zuhause arbeiten? Auch Schlägereien unter Kollegen beschäftigen das Gericht.

Stuttgart - Kleinen Jungs trichtert man es schon im Kindergarten ein: Treten, Beißen und Hauen sind verboten, verboten, verboten! Was Hänslein nicht lernt, heißt es schließlich, lernt Hans nimmermehr. Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hat es 2017 gleich zwei Mal mit erwachsenen Hansen zu tun bekommen, die sich bei der Arbeit mit Kollegen nicht nur in die Wolle bekommen, sondern auch noch ausgewachsene Schlägereien geliefert haben. Beide wollten die Prügelei als Arbeitsunfall gewertet wissen und von der Unfallversicherung eine Entschädigung. In einem Fall ist der Antragsteller bei den Stuttgarter Landesrichtern sauber abgeblitzt. Dem anderen Kläger aber billigten sie eine Entschädigung zu.

 

Die Fälle gehörten zu den Kuriositäten, die das Landessozialgericht in seiner Jahresbilanz präsentiert hat. Aber die Arbeitswelt im Wandel beschäftige in zunehmendem Maße auch die 105 Richter in den acht Sozialgerichten in Baden-Württemberg und die 50 Richter am Landessozialgericht, sagt Bernd Mutschler, seit März neuer Präsident am Landessozialgericht.

Die Stuttgarter Richter sind bundesweit spitze

4000 Berufungs- und Eilrechtsschutzverfahren sind im vergangenen Jahr in Stuttgart eingegangen. Knapp 34 000 Verfahren wurden bei den acht Sozialgerichten eingereicht. Beides entspricht etwa den Vorjahren. Das Landessozialgericht konnte 2017 die durchschnittliche Verfahrensdauer um einen Monat auf elf Monate senken; das ist bundesweit spitze. In Stuttgart nehmen dabei Fragen zu den klassischen Sozialversicherungssystemen, zur Renten-, Unfall- oder Krankenversicherung mit einem Anteil von 75 Prozent an den Berufungsverfahren den größten Part ein. Dabei hätten die Streitigkeiten zwischen den Krankenkassen und den Krankenhausträgern zugenommen, sagt Mutschler.

Häufig muss aber auch das 133 Jahre alte Gesetz zur Unfallversicherung neue Antworten finden, etwa auf die Frage, wann der Arbeitsschutz im Homeoffice endet. Das Landesgericht fasst den Schutz eng: In der Firma sei der Arbeitgeber für den Arbeitsschutz verantwortlich, „zuhause aber hat er nichts zu melden“, sagt Steffen Luik, der Sprecher des Landessozialgerichts.

Jährlich werden neun bis zehn Milliarden Euro ausgezahlt

So hat eine Frau, die im Homeoffice arbeitete, ein Paket mit Kaffee entgegen nehmen wollen. Sie stürzte dabei auf der Treppe. Kein Arbeitsunfall, wie das Landessozialgericht feststellte. Hätte das Paket Unterlagen für ihren Job enthalten, wäre die Sache anders ausgegangen. Auch wer bei einer dienstlichen Autofahrt mit dem Handy telefoniert, kann nicht automatisch einen Arbeitsunfall geltend machen. Das Telefonat muss dienstlich gewesen und die Verkehrsregeln müssen eingehalten worden sein.

Die gesetzliche Unfallversicherung „ist die am meisten unterschätzte und eine der erfolgreichsten Versicherungen“, urteilt Luik: Immerhin werden in Deutschland jährlich zwischen neun und zehn Milliarden Euro an Leistungen ausgeschüttet. Unter anderem bekam 2017 ein Bauarbeiter, der auf der Heimfahrt im Firmenbus von einem Kollegen verprügelt worden war, weil sie sich über die Route nach Hause gestritten hatten, vom Gericht seine Blessuren als Folge eines Arbeitsunfalls anerkannt: Man habe über betriebliche Themen – eben die Heimfahrt – gestritten.

Ein anderer Kläger ging indes leer aus. Der Mann arbeitet in einem Lager und hatte sich mit einem Kollegen gestritten, weil dieser sich angeblich die leichten Stücke herausgepickt hatte. Man beschimpfte sich, dann ging jeder seiner Wege. Eine halbe Stunde später beschimpfte der Kläger den Kollegen erneut. Der winkte ab. Der Kläger senkte seinen Kopf wie ein Stier und rannte auf den Kollegen zu. Beiden wurden verletzt, der Kläger erlitt einen Halswirbelbruch. Das Sozialgericht sah keinen Arbeitsunfall: Dieser Disput sei nicht dienstlich gewesen.