Und plötzlich ist sie Abgeordnete: Seit einem Jahr sitzt Stefanie Seemann für die Grünen im Landtag.

Enzkreis/Mühlacker - Der 13. März 2016. Für Stefanie Seemann ein Tag, den sie nicht mehr vergessen wird. Im Enzkreis-Landratsamt verfolgt sie die Auszählung, die ersten Ergebnisse trudeln ein, sind aber noch nicht eindeutig. Eine weitere Dreiviertelstunde vergeht, der grüne Balken wächst immer höher. Die 57-Jährige ringt immer noch nach Worten, wenn sie an diesen Moment denkt. „Es war ein wahnsinniges Gefühl“, sagt sie und strahlt. „Unglaublich, was da passiert ist.“

 

Was da passiert ist? Stefanie Seemann, die Mutter, die Soziologin, die Garten- und Naturliebhaberin, ist zur baden-württembergischen Landtagsabgeordneten gewählt worden. Damit gehört sie zu derjenigen Spezies von Politikern, die mit solch einem Amt nie gerechnet hat. Das nimmt ihr jeder ab, der mit Stefanie Seemann spricht. Denn bis zum Wahltag um 18 Uhr hätte in dem rabenschwarzen Enzkreis niemand für möglich gehalten, dass nicht die CDU-Frau Viktoria Schmid die Mehrzahl der Stimmen bekommen würde.

Wahlkampf als Erfahrung

Selbst in der grünen Partei nicht, das gibt Stefanie Seemann heute offen zu. „Anfang 2015 wurde ich mal gefragt, ob ich nicht kandidieren wolle“, erzählt sie. Gesucht wurde jemand, der mit viel Herzblut Wahlkampf für die Grünen macht – ohne selbst wirklich Ambitionen auf das Mandat zu haben. Stefanie Seemann zögert, sagt ab, und sagt dann doch zu. „Ich hab’ mir gedacht: Wenn ich so einen Wahlkampf mal mitmache, kann ich wertvolle Erfahrungen und Kompetenzen gewinnen“, erinnert sie sich. „Gerade mir als Berufsanfängerin würde das nur zugute kommen.“

Denn Stefanie Seemann bringt zwar schon 57 Jahre an Lebenserfahrung mit, dennoch ist sie damals noch nicht allzu lange im Berufsleben tätig. Nach dem Abitur in Mühlacker (Enzkreis) hat sie eine Ausbildung zur Landschaftsgärtnerin gemacht, war dann aber 30 Jahre lang für ihre Familie da, hat fünf Kinder aufgezogen. Als im Jahr 2011 dann alle aus dem Haus sind, startet Stefanie Seemann durch. An einer Fernuniversität studiert sie Soziologie, arbeitet dann von 2014 an im Forschungsmanagement beim Karlsruher Institut für Technologie.

Nebenbei ist sie seit 2009 Stadträtin in ihrer Heimatstadt Mühlacker. So könnte es weitergehen, das denkt sich jedenfalls Stefanie Seemann. Doch der Wähler will es anders, seit dem 13. März 2016 ist sie Landtagsabgeordnete. „Was wäre, wenn ich tatsächlich gewählt werde, mit dieser Frage hab’ ich mich überhaupt nicht beschäftigt“, erinnert sich die Neu-Politikerin heute. „Ich habe ja nicht geglaubt, dass es klappt.“

Aber es hat geklappt. Und Stefanie Seemann geht die neue Berufung mit umso mehr Neugierde und Energie an. Bereits zwei Tage nach der Wahl fährt sie erstmals beruflich nach Stuttgart, ihre erste Fraktionssitzung steht an. Denn viel ist zu tun. Bekommt sie ein Büro? Hat sie jetzt Mitarbeiter? Wenn ja, wie viele? Wie sind Abgeordnete versichert und abgesichert? „Es gibt da für neu gewählte Abgeordnete keinen Plan, den man abarbeitet“, erklärt sie. „Jeder macht das anders, da muss man sich erst mal zurechtfinden.“ Denn in Stuttgart erlebt sie lauter Premieren. Die erste Fraktionssitzung, erste Koalitionsverhandlungen, die ersten Touren durch den Wahlkreis, schließlich die allererste Sitzung des Landtags. „Ja, das ist schon ein bewegender Moment“, erinnert sich die Neu-Abgeordnete Stefanie Seemann. „Wenn man da sitzt und die ganzen Abläufe mitbekommt.“

Zu den Abläufen gehören auch eingespielte Routinen der riesigen Maschine namens Landespolitik, die Zusammenarbeit zwischen den Abgeordneten, den verschiedenen Parteien, zwischen dem Parlament und den Ministerien. Und natürlich die Spielchen zwischen Regierungsfraktionen und Opposition. „Die scharfen Debatten im Parlament müssten nicht immer sein, das ist manchmal schwer auszuhalten“, sagt die Landespolitik-Novizin. „Aber in den Ausschüssen wird sehr sachlich gearbeitet und argumentiert.“ In gleich drei Ausschüssen arbeitet sie mit, im Wissenschafts-, im Sozial- und im Petitionsausschuss.

Noch lieber direkt bei den Menschen

„Man hat als Abgeordnete ja immer zwei Rollen“, hat Stefanie Seemann festgestellt. „In Stuttgart ist man Fachpolitikerin, im Wahlkreis dann Generalistin.“ Und Letzteres, also im Enzkreis unterwegs zu sein, mit Bürgern und Bürgermeistern sprechen, sich Probleme anhören, die Politik der grün-schwarzen Koalition vertreten, das macht sie noch ein bisschen lieber, gibt sie zu. „Gleich am Anfang habe ich zum Beispiel eine Werkrealschule besucht“, erinnert sie sich. Die Existenzängste des Lehrerkollegiums konnte sie nehmen, nachdem sie mit dem Regierungspräsidium Kontakt aufgenommen hatte.

Nur eine Premiere steht Stefanie Seemann noch bevor: Eine Rede vor dem Parlament. „Da redet man nur, wenn ein Thema debattiert hat, in das man sich speziell eingearbeitet hat“, sagt sie. Ihr Spezialthema ist zum Beispiel die Demografie, aber das erarbeitet sie sich momentan erst. Routine ist es für die Abgeordnete dagegen inzwischen, im Parlament ihre Hand zu heben, und damit stellvertretend für die 200 000 Menschen im Enzkreis ein Gesetz zu verabschieden. „Ja“, sagt sie, schmunzelt und bleibt wie immer nüchtern. „So viel Unterschiede zu einer Gemeinderatssitzung gibt es da nicht.“