Die verheerende Hongkong-Grippe hat an der Jahreswende zwischen 1969 und 1970 weltweit eine Million Todesopfer gefordert. Im Kreis Ludwigsburg war jeder sechste Postbote erkrankt, und das Klinikpersonal arbeitet am Rand der Erschöpfung.

Ludwigsburg - Vor 50 Jahren breitete sich eine Grippewelle in Europa aus. Auch damals gab es Reaktionen wie heute. Experten wie ein Tübinger Obermedizinialdirektor beschwichtigten noch am 16. Dezember 1969 Berichte über eine ungeheure Epidemie, die Hongkong-Grippe, ab. Er sollte sich gewaltig irren. Die Kreisärzteschaft sprach stattdessen schnell von einer katastrophalen Lage.

 

Die Grippe entstand aus einer Kombination von Geflügelpestviren mit Influenzaviren. Im Sommer 1968 wurde das Virus in Hongkong erstmals nachgewiesen. Experten haben für das Gebiet der alten Bundesrepublik berechnet, dass etwa 40 000 Menschen in Westdeutschland an der Hongkong-Grippe gestorben sind.

Die Grippewelle traf auch den Kreis Ludwigsburg mit voller Wucht. Am 18. Dezember 1969 schlug das Ludwigsburger Kreiskrankenhaus Alarm. Es herrschte Bettenmangel. Patienten mit leichteren Erkrankungen konnten nicht mehr aufgenommen werden. Auch etliche Bedienstete des Krankenhauses hatten sich bereits mit Grippe infiziert.

Es gab 350 Krankmeldungen am Tag

Das Bundesgesundheitsamt in Berlin teilte mit, dass es nicht zu erwarten sei, dass die Grippewelle ein katastrophales Ausmaß annehme. Die Grippeschwerpunkte lägen im süddeutschen Raum.

Ganz anders bewertete die AOK Bietigheim diese Entwicklung. Der tägliche Zugang an Krankmeldungen lag bei 300 bis 350 Versicherungspflichtigen. In einigen Betrieben fehlten 30 bis 40 Prozent der Belegschaft, fast jede Familie war inzwischen von der Grippe betroffen. Hausbesuche der Ärzte waren nur noch in Notfällen möglich. Am 22. Dezember appellierten die Stuttgarter Krankenhäuser an Hausfrauen, dem überlasteten Pflegepersonal zu helfen. Eine pflegerische Vorbildung sei für diese Tätigkeit zwar erwünscht, jedoch keine Voraussetzung.

Ein 46-jähriger Mann und eine 37-jährige Frau starben im Ludwigsburger Kreiskrankenhaus an der hochansteckenden Krankheit. Die Bietigheimer Gemeindeschwestern Paula und Sofie sowie Schwester Lydia in Sersheim hatten über die Weihnachtsfeiertage alle Hände voll zu tun, neben den üblichen Patienten auch die zahlreichen Grippekranken, die daheim waren, zu versorgen. 11,3 Prozent der rund 31 500 Versicherten bei der AOK Bietigheim waren am 24. Dezember krank, ein neuer Rekord. Die Grippewelle verursachte auch einen Kollaps im Postbetrieb. In Asperg war Ende Dezember jeder sechste Postbeamte krank. In den Kliniken waren Beatmungsgeräte Mangelware.

In Niedersachsen war jeder Dritte erkrankt

Auch Europa hatte das Virus befallen. Am 30. Dezember hatte nach einer Mitteilung der Behörden die Influenza ihren Höhepunkt in Südeuropa offenbar überschritten. Etwa 10 bis 18 Millionen Italiener hatten bis dahin die Grippe „durchgemacht“. In einer Meldung vom 31. Dezember 1969 hieß es in lokalen Zeitungen: „In einem ‚Siegeszug‘, der die Wellen der Vorjahre weit übertraf, suchte die Grippe von Italien ausgehend Frankreich, Jugoslawien, die Bundesrepublik Deutschland, Dänemark, Schweden und Großbritannien heim.“ In Niedersachsen war jeder Dritte an Grippe erkrankt.

130 Tote in Baden-Württemberg zu beklagen

Am 20. Januar zog das baden-württembergische Innenministerium eine erste Bilanz. Demnach hatte die Grippewelle 130 Tote in Baden-Württemberg gefordert.

Die AOK Bietigheim bezifferte am 13. Februar 1970 die durch die Grippe verursachten Kosten für ihren Einzugsbereich auf mehr als eine Million D-Mark. Trotz aller Bemühungen starben in Ludwigsburg 26 Menschen an der Grippe, darunter drei Kinder.

Hätten sich mehr Menschen der von den Ärzten empfohlenen Grippeimpfung unterzogen, hätten viele nicht sterben müssen, sagte der Ärztliche Direktor Professor Gernot Friese am 16. Februar im Kreiskrankenhaus-Ausschuss des Landkreises. Die Grippewelle hatte das Ludwigsburger Krankenhaus nach seiner Aussage bis aufs Äußerste beansprucht. 308 schwer an Grippe erkrankte Patienten wurden dort behandelt. In den beiden inneren Abteilungen waren über zwei Drittel aller Betten von Grippekranken belegt.

Die Kinderklinik betreute 122 grippekranke Kinder. Da die Infektionsabteilung mit ihren 14 Betten nicht alle Grippekranke aufnehmen konnte, wurden diese auf den Allgemeinstationen versorgt. Die Betreuung dieser großen Zahl an Grippekranken wurde dadurch erschwert, dass zeitweise fast ein Viertel des Personals selbst erkrankte. Viele Angehörige des Personals waren an diesen Tagen bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit im Einsatz, so Professor Friese.

Die Bevölkerung konnte nicht ausreichend versorgt werden

Die AOK Ludwigsburg rechnete am 10. Februar 1970 die durch die Grippe verursachten Kosten für ihren Bereich auf 1,8 Millionen D-Mark. Der baden-württembergische Innenminister Walter Krause hatte am gleichen Tag eingeräumt, dass es nicht immer möglich gewesen sei, die Bevölkerung ausreichend mit Medikamenten ohne Verzögerungen zu versorgen. In Notlagen sollten Apotheken auch kurzfristig auf Vorräte des zivilen Bevölkerungsschutzes zurückgreifen können.

Experten gehen davon aus, dass in der Bundesrepublik rund 40 000 Menschen bei dieser Grippepandemie starben. Weltweit dürften im Zeitraum von 1968, dem ersten Auftreten der Hongkong-Grippe, bis zum Ende der Grippepandemie im Jahre 1970 rund eine Million Menschen an dem Virus gestorben sein.