An einem windstillen Tag wurde plötzlich das Wasser in norwegischen Fjorden aufgewühlt. Wie in einer Badewanne schwappte es hin und her. Forscher haben nun die Ursache geklärt: Das Phänomen geht auf das Erdbeben zurück, das Fukushima zerstörte.

Stuttgart - Rumpelt ein Lkw am Haus vorbei, dann kann schon mal die Kaffeetasse überschwappen, und niemand wundert sich. Doch was die Anwohner norwegischer Fjorde am 11. März 2011 erlebten, überstieg ihre Vorstellungskraft. Das Wasser war an dem Morgen zunächst ganz still. Plötzlich aber begann es hin- und herzuschwappen, ohne dass eine Ursache zu erkennen gewesen wäre – kein Wind, kein Meergetier. Zeitungsredaktionen und Radiostationen nahmen etliche beunruhigte Anrufe entgegen. „Der Wasserstand wechselte ständig zwischen Flut und Ebbe“, sagte ein Augenzeuge am Framfjord. Wie „kochend“ habe das Wasser ausgesehen, berichtete ein anderer am Sognefjord.

 

Erst spekulierten Wissenschaftler über einen unterseeischen Hangrutsch. Doch schon am Nachmittag fanden sie die richtige, verblüffende Erklärung. Die Ursache der Pegelschwankungen war 8500 Kilometer entfernt: Am 11. März 2011 hatte sich östlich von Japan ein katastrophales Beben mit einer Magnitude von 9,0 ereignet. Der Meeresboden vor der Küste hatte sich mit einem gewaltigen Ruck um mehrere Meter verschoben. Das rief nicht nur einen tödlichen Tsunami hervor, die Bebenwellen pflanzten sich auch in der Erdkruste fort und brachten im fernen Norwegen das Wasser zum Schwappen.

Das seltene Phänomen ist als „seismische Seiche“ bekannt; Fjorde sind wegen ihrer Tiefe dafür sehr empfänglich. Viel häufiger werden Seiches (ausgesprochen: „Sääsch“) vom Wind ausgelöst, etwa im Bodensee. Drei norwegische Forscher haben die Entstehung jener Seiches vom März 2011 jetzt im Detail aufgeklärt. Dazu werteten sie erst Videos von Überwachungskameras und Handys sowie Augenzeugenberichte aus. Demnach schwankte der Wasserstand um bis zu eineinhalb Meter – bei einer Periodendauer zwischen 67 und 100 Sekunden, berichtet das Trio in der Fachzeitschrift „Geophysical Research Letters“ (unter dem Link sind auch Videos der Seiches zu sehen). Insgesamt hielten die Schwingungen in den Fjorden bis zu drei Stunden lang an. Sie richteten keinen Sachschaden an, sondern wühlten nur das Wasser am Ufer auf und ließen Boote tanzen.

Die Ursache hat die Forscher verdutzt

Die Ursache der Seiches ermittelte das Trio um Stein Bondevik vom University College des norwegischen Distrikts Sogn og Fjordane mit Computersimulationen. Das entscheidende Indiz: die ersten Pegelschwankungen setzten eine halbe Stunde nach dem Beben in Japan ein – das passt perfekt zur berechneten Ankunft der sogenannten Sekundärwellen: So heißen die zweitschnellsten durch die Erdkruste übertragenen Bebenwellen.

Nun waren die Forscher verdutzt. Normalerweise werden seismische Seiches durch die Oberflächenwellen ausgelöst, die langsamer sind als die Sekundärwellen und die nahe dem Epizentrum in der Regel die größten Zerstörungen anrichten, weil sie an der Erdoberfläche am stärksten sind. Doch in dem aktuellen Fall wurden die Seiches durch die Oberflächenwellen bloß zusätzlich verstärkt.

Als Laie würde man vielleicht annehmen, dass Schwingungen in Längsrichtung der Fjorde die Ursache gewesen sein müssen. Die Computersimulationen zeigen aber etwas anderes: Auslöser waren Bewegungen in einem Winkel nahe 90 Grad zur Längsrichtung der Fjorde. Seismische Seiches sind in Norwegen nichts Neues, aber sie ereignen sich extrem selten. „In jener Nacht konnte ich nicht schlafen, da ich ständig an die große Distanz zwischen Japan und Norwegen denken musste und daran, dass so kleine Bewegungen durch das Erdbeben so große Wellen auslösen konnten“, erzählt Bondevik.

Das letzte Mal traten in Norwegen seismische Seiches im Jahr 1950 nach einem schweren Erdbeben in Indien auf. Die ersten schriftlichen Berichte von seismischen Seiches in Europa stammen aus dem Jahr 1755, als in Lissabon die Erde bebte. Damals schwappte das Wasser auch in mehreren schottischen Seen hin und her – unter anderem im Loch Ness. Dort blieb es im März 2011 aber ruhig.

Das Wasserwunder von Konstanz im Jahr 1549

Stichwort: Seiches
Wenn man in der Badewanne schaukelt, schwappt das Wasser. Ähnlich verhält es sich in Seen: Bläst zum Beispiel der Wind stark von einer Seite, schwappt der See rhythmisch hin und her. Dabei können sich auch stehende Wellen bilden. Im Meer können zudem Erdbeben und Tsunamis solche Seiches auslösen.

Das Wasserwunder
Am 23. Februar 1549 hob und senkte sich der Wasserspiegel des Bodensees in Konstanz, wo der Rhein vom Obersee in den Untersee fließt. Etwa eine Elle, also 60 Zentimeter, waren diese Schwankungen hoch, in deren Takt auch der Rhein seine Fließrichtung umkehrte – für die Menschen ein Wunder.

Die Ursachen
Heute wird das Wasserwunder als besonders hohe Seiches gedeutet. Damals müssen durch besondere, nicht mehr zu rekonstruierende Bedingungen recht schnelle Eigenschwingungen mit einer Periode von etwa 15 Minuten im Obersee aufgetreten sein. Und die wurden offenbar noch lokal verstärkt. (Klaus Zintz)