Erdogan will Kurdenpolitiker mit einer Anklage wegen „terroristischer Propaganda“ zum Schweigen bringen.

Istanbul - Eigentlich ist es eine ganz normale Woche im Südosten der Türkei: Sie begann am Montag und Dienstag mit Luftangriffen türkischer Kampfflugzeuge auf mutmaßliche Schlupfwinkel der kurdischen PKK. Zehn Rebellen seien bei den Angriffen getötet worden, teilte der Generalstab mit. Dass die Regierung in Ankara das eigene Land bombardieren lässt, zeigt, wie weit der Kurdenkrieg bereits eskaliert ist.

 

Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat geschworen, er werde die PKK „ausrotten“. Es ist ein Feldzug, den Erdogan an vielen Fronten führt. Ein Kriegsschauplatz ist diese Woche die türkische Nationalversammlung. In der Nacht zum Mittwoch stimmte das Parlament in erster Lesung mit großer Mehrheit für die Aufhebung der strafrechtlichen Immunität von 138 Abgeordneten. Gegen sie wird wegen verschiedener Straftaten ermittelt. 50 von ihnen gehören zur kurdenfreundlichen Partei HDP, die im Parlament mit 59 Mandaten vertreten ist. Vor allem um sie geht es.

Für die Selbstverwaltung

Präsident Recep Tayyip Erdogan beschuldigt die Partei, sie sei der „verlängerte Arm“ der als Terrororganisation verbotenen PKK. Die Parlamentarier sollen nach den umstrittenen Anti-Terror-Gesetzen wegen „terroristischer Propaganda“ vor Gericht gestellt werden, weil sie beispielsweise in öffentlichen Reden eine Selbstverwaltung der kurdischen Volksgruppe und mehr politische Rechte für die Minderheit gefordert hatten. Eigentlich müsste das Parlament über die Aufhebung der Immunität in jedem einzelnen Fall beraten und entscheiden – ein langwieriges Verfahren. Erdogan und die Regierung wählen deshalb eine Abkürzung: Mit einer vorübergehenden Verfassungsänderung soll die Immunität aller beschuldigten Abgeordneten aufgehoben werden. Die entscheidende Abstimmung findet am Freitag statt.

Für die Verfassungsänderung braucht die Regierung eine Zweidrittelmehrheit. Stimmen wenigstens drei Fünftel der Abgeordneten dafür, müsste die Verfassungsänderung anschließend in einer Volksabstimmung angenommen werden. Beim ersten Votum in der Nacht zum Mittwoch blieb die Regierung mit 348 Ja-Stimmen zwar unter der Zweidrittelmehr von 367 Stimmen, übertraf aber die Dreifünftelmehrheit von 330 Stimmen deutlich. Mit Spannung wird nun erwartet, ob das Parlament am Freitag die Verfassungsänderung billigt oder ob es zu einer Volksabstimmung kommt.

Prügelszenen im Parlament

Die Stimmung ist aufgeheizt. Bei der Debatte über die Verfassungsänderung gingen in den vergangenen Wochen bereits Abgeordnete der HDP und der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP mehrfach mit Fäusten aufeinander los. Die Prügelszenen im Parlament sind vermutlich nur ein harmloser Vorgeschmack dessen, was der Türkei drohen könnte, wenn die HDP-Abgeordneten verurteilt werden und aus dem Parlament ins Gefängnis wandern. Kurdenpolitiker fürchten dann eine neue Welle der Gewalt. Der HDP-Abgeordnete Ziya Pir warnt: „Ich weiß nicht, was das in den Kurdengebieten für dramatische Auswirkungen haben wird.“

Dass die HDP Verbindungen zur PKK hat, ist zwar unbestreitbar. Zugleich ist sie aber einer Stimme der Mäßigung und der einzige Ansprechpartner für eine friedliche Beilegung des Konflikts. Bringt Erdogan die HDP zum Schweigen, schlägt er damit die Tür zu einer politischen Lösung der Kurdenfrage zu. Das wäre Wasser auf die Mühlen der kurdischen Extremisten, die auf dem bewaffneten Kampf setzen und ihren Terror bereits mit Selbstmordattentaten und Autobomben in den Westen der Türkei tragen. Der HDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas sieht in der geplanten Verfassungsänderung „einen totalitären Angriff auf die bereits schwache parlamentarische Demokratie“. Erdogan wolle offenbar „einen Bürgerkrieg provozieren, um aus dem entstehenden Chaos heraus das von ihm geplante Präsidialsystem einführen zu können“, sagte Demirtas der ARD. Erdogan wirbt für eine Verfassungsänderung, die ihm als Staatsoberhaupt eine noch größere Machtfülle geben soll.