Die ersten Schüler der internationalen Vorbereitungsklasse in Sindelfingen haben die Prüfung abgelegt.

Sindelfingen - Keine Abschlussfahrt, statt eines rauschenden Abiballs eine kleine Feier im Innenhof der Schule – für die Abschlussschüler des Corona-Jahrgangs 2020 fällt vieles weg, was zum Abschiednehmen von der Schulzeit gehört. Für Kholoud Zineh ist das kein Problem. „Ich bin sowieso nicht so die Partygängerin.“ Alles, was für sie zählt: Sie hat das Abi.

 

Was vor vier Jahren als Experiment des damaligen Schulleiters Bodo Philipsen begonnen hat – die Aufnahme von begabten jungen Flüchtlingen am Sindelfinger Pfarrwiesen-Gymnasium – erreicht jetzt das erste Ziel: Die ersten vier Schüler haben das Abi bestanden, drei weitere gehen mit einer „sehr guten Fachhochschulreife“ ab, wie die Projekt-Koordinatorin Regine Wagner betont. All die Jahre haben wir das Projekt journalistisch begleitet – und dabei auch mehrfach Kholoud getroffen.

Kholoud wollte Chemie statt Kochen

Vor vier Jahren hatte die Syrerin von einem solchen Erfolg geträumt. Verzweifelt war sie damals. In eine Berufsvorbereitungsklasse mit lauter anderen Flüchtlingen hatte man sie gesteckt, Analphabeten und Schüler, die kurz vor dem Abitur standen, waren bunt gemischt. „Wir mussten kochen und in die Metallwerkstatt.“ Alles nichts für die damals 17-Jährige. „Ich wollte auf eine richtige Schule mit deutschen Schülern, Mathe, Physik, Chemie lernen.“ Sie verweigerte den Schulbesuch und man drohte ihr, dass die Polizei sie zur Schule bringen würde.

Doch Kholoud ließ sich nicht unterkriegen. Obwohl sie nur wenig Deutsch sprach, recherchierte sie ihre Möglichkeiten. Der Glücksfall: Im September 2016 hatte das Sindelfinger Pfarrwiesen-Gymnasium mit einer internationalen Vorbereitungsklasse für begabte Migrantenkinder begonnen. Das Konzept: nach einem Intensivkurs Deutsch werden die Jugendlichen schnell in die Regelklassen integriert. Kholoud rief an und bekam einen Termin bei Regine Wagner.

Täglich zwei Stunden Anfahrt zur Schule

Diese war beeindruckt vom Willen der jungen Frau, und Kholoud und ihre jüngere Schwester wechselten aufs Gymnasium. Fast vier Jahre lang ist die Syrerin täglich vom Wohnort Nagold nach Sindelfingen gefahren. Zwei Stunden hin, die gleiche Strecke zurück.

Der Einsatz hat sich gelohnt. Stolz ist Regine Wagner auf die ersten Abiturienten. 113 Schüler hat sie seit dem Start der Vorbereitungsklasse betreut. Eine schaffte bereits nach wenigen Monaten den Sprung direkt an eine Universität. Viele sind aber auch wieder abgegangen. „Wir haben fast alle irgendwo untergebracht: in einer Ausbildung oder dem Berufskolleg“, betont Wagner.

Besuchten anfangs überwiegend Flüchtlinge zwischen 15 und 19 Jahren aus dem Nahen Osten und afrikanischen Ländern die Klasse, waren es in den vergangenen Jahren jüngere Kinder von Arbeitsmigranten vom Balkan, den USA und Lateinamerika. „Jetzt gibt es wieder einen Wechsel“, sagt Wagner. „Viele Flüchtlinge aus der Türkei kommen zu uns.“

Soheil ist im Vorstand der Jungen Union

Begleitet haben wir über die Jahre auch Soheil Abdollahi, der jetzt das Abitur gemacht hat. Mit 16 kam er als unbegleiteter Minderjähriger. Seine Pflegefamilie meldete ihn im Pfarrwiesen-Gymnasium an. Dort imponierte er von Anfang an durch Neugier und Lernwillen. Längst ist Soheil in Deutschland angekommen. Er jobbt bei einem Schnellimbiss, engagiert sich politisch im Vorstand der Jungen Union Sindelfingen und hat eine Freundin. Sein Leben unterscheide sich nicht von dem seiner deutschen Klassenkameraden, meint der 20-Jährige. Ein Soziales Jahr möchte er jetzt machen und anschließend Wirtschaft studieren.

Auch Kholoud Zineh weiß genau, was sie will: Medizin studieren. Mit einem Abischnitt von 2,7 wird das nicht einfach. Doch sie ist das Kämpfen ja gewohnt. Erst Urlaub in Venedig mit ihrem Freund, dann ein Praktikum im Krankenhaus, anschließend die Vorbereitung auf die Medizinprüfung – so ihr Plan. Und in zwei Jahren will sie die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen.

Trotz aller Zukunftspläne: Aktuell überwiegt die Wehmut. „Ich werde die Schule vermissen“. Heimat und Zuflucht ist sie ihr geworden. Ihr Trost: Ihre Lehrerinnen Regine Wagner und Meike Hertkorn werden weiter für sie da sein. „Wenn ich Hilfe brauche, kann ich sie anrufen.“