Erste Studien zeigen, dass die Ergotherapie Patienten mit Demenz helfen kann: Die Krankheit wird nicht geheilt, aber der Alltag lässt sich besser bewältigen. Davon profitieren auch die Angehörigen.

Stuttgart - Die Diagnose trifft oft ins Mark: Demenz, welche Form auch immer, ist Sinnbild der schleichenden geistigen Umnachtung und der Entfremdung vom Selbst und den Nächsten. 1,1 Millionen Menschen leben in Deutschland mit dieser Alterserkrankung. Routinemäßig verordnen Hausärzte und Neurologen Antidementiva. Aber diese verzögern den schleichenden Verlust der Geistesgaben mehr schlecht als recht. Seit einer Dekade ist kein neues Medikament mehr zugelassen worden und auch für die kommenden fünf Jahre erwarten Forscher keinen Durchbruch in der pharmakologischen Therapie.

 

In dieser Situation überrascht eine Heilberufsgruppe, der wohl die Wenigsten Linderung zugetraut hätten. Ergotherapeuten können Menschen mit Demenz einer Handvoll Studien zufolge in ihrem Alltag mehr helfen als jedes Medikament. Kürzlich verloren geglaubte Fertigkeiten wie das Zuknöpfen eines Hemdes oder das Zubereiten kleiner Speisen können sie mit gezieltem Training reaktivieren. Schon werben die ersten Praktiker mit dem Versprechen, die Ergotherapie könne die Pflegebedürftigkeit hinauszögern. Belegt ist das zwar nicht, aber die Aufmerksamkeit für eine bisher wenig beachtete Behandlungsmethode wächst. „Wir werden in Zukunft allen Menschen mit Demenz eine umfassende und spezifische Ergotherapie anbieten“, sagt Michael Hüll von der Uniklinik Freiburg.

Erste Studien deuten Erfolge an

Bei der Ergotherapie werden Alltagshandlungen wie das Anziehen oder das Waschen vereinfacht und in vereinfachter Form trainiert, so dass sie trotz verminderter Leistungsfähigkeit beherrscht werden können. Einem unausgesprochenen Dogma zufolge können Menschen mit Demenz aber nichts mehr lernen, nur verlernen. Man wähnte sie in einer geistigen Abwärtsspirale gefangen. Gesundheitsforscherin und Ergotherapeutin Maud Graff von der Radboud-Universität in Nijmegen brach mit dieser Vorstellung, als sie an 135 Patienten mit beginnender Demenz nachwies, dass sie von zehn Stunden Ergotherapie über fünf Wochen verteilt deutlich profitierten. Auch drei Monate später bewältigten sie ihren Alltag erheblich besser als die Vergleichsgruppe, die nur Medikamente geschluckt hatte. Graff zieht Bilanz: „Die Betroffenen zeigen mehr Initiative und mehr Autonomie und Freude beim Verrichten alltäglicher Aktivitäten.“

Die sogenannte Ergodem-Studie an Kliniken in Dresden, Leipzig und Günzburg konnte daran anknüpfen: Noch ein halbes Jahr nach dem Training verfügten die Behandelten über mehr Alltagsfähigkeiten als die Vergleichsgruppe.

Die geistigen Leistungen indes, das zeigt sich in allen Studien, schwinden trotzdem. Heilen kann folglich auch die Ergotherapie nicht. „Durch das Training können die Betroffenen aber Fähigkeiten im Alltag wieder erlangen, die sie vor einem halben Jahr verloren haben, etwa das Telefonieren oder Ankleiden“, stellt Hüll klar. Komplexe und gefährliche Aktivitäten wie Autofahren können Ergotherapeuten dagegen schon aus Sicherheitsgründen nicht vermitteln.

Technik kann die Patienten im Alltag unterstützen

Oft unterstützen technische Hilfsmittel die Betroffenen darin, die Handlung wieder autonom auszuführen. Maud Graff beschreibt dies an einem Ehepaar. Der 71-jährige Richard ist an einer milden Form der Demenz erkrankt, die sich zu einer schon länger bestehenden Parkinsonerkrankung gesellt. Seine Frau Anne trägt schwer an der Last der Pflege und ist oft unzufrieden mit sich und ihrem Mann, der einst alltägliche Arbeiten wie Staubsaugen und das Schneiden der Hecke nicht mehr korrekt und zügig bewerkstelligt. Aus Frust schultert sie nahezu alle Aufgaben selbst.

Maud Graff ermuntert Anne dazu, Richard kleine Heckenabschnitte, die sie zuvor mit einem roten Tape markiert, schneiden zu lassen. Mit einer speziellen dreistufigen Schere geht ihm das leicht von der Hand. Ein Spezialgreifgerät hilft ihm beim Auflesen des Heckenschnitts. Alle zehn Minuten läutet zudem ein Wecker, der ihm signalisiert, eine Pause zu machen. Richard lernt in der Ergotherapie auch wieder, seine Jacke selbst zu schließen. Ein großer Papieranhänger an seinem Reißverschluss erinnert ihn, wie er diesen schließen muss. Einst leidenschaftlicher Chorsänger, lernt er dank eines Gummiaufsatzes auf der Fingerkuppe auch wieder in seinem Gesangbuch zu blättern und mit seiner Frau Lieder zu singen. Anne erkennt im Laufe der Therapie, dass er viele Fertigkeiten nie mehr wie einst beherrschen wird und ihr trotzdem eine Hilfe sein kann.

Der Fall zeigt, wie bedeutsam die Rolle der Angehörigen in der Ergotherapie ist. Meist werden sie gezielt einbezogen. Sie lernen, ihrem Partner mit seinen bestehenden Fähigkeiten zu vertrauen. „Wichtig ist es zum Beispiel, dass man bei Essensproblemen nicht zu schnell das Essen reicht, sondern versucht, eine eigene Bewegung anzubahnen, indem man zum Beispiel unterstützend den Arm mit dem Löffel zum Mund führt“, sagt Sebastian Voigt-Radloff von der Uniklinik Freiburg.

„Alle kommen hinterher besser miteinander aus“

Hüll rechnet damit, dass sich die Technik weiterentwickeln wird. Herdplatten, die sich abschalten, wenn sie zu lange ohne Topf aktiv sind, werden ebenso zur Standardausstattung der Haushalte gehören wie Gedächtnisstützen, etwa ein Fotoapparat, der den gesamten Tagesablauf ablichtet. Die Fotos können dem Gedächtnis von Demenzkranken auf die Sprünge helfen.

Doch noch ist die Ergotherapie nicht einmal in der Routineversorgung angekommen. Maximal zwei Prozent der Betroffenen erhalten spezifische Behandlungen wie die Ergotherapie, beklagt der Deutsche Verband der Ergotherapeuten. Kassenpatienten müssen in der Regel zehn Prozent zuzahlen, selbst wenn ihnen eine Ergotherapie verordnet wird. „In die Forschung ist allenfalls eine Million Euro geflossen. In die Arzneientwicklung sind es Hunderte Millionen Euro“, sagt Hüll ein.

Trotzdem widmen sich immer mehr Ergotherapeuten Menschen mit Demenz. Die Argumente haben sie trotz der noch spärlichen Datenlage auf ihrer Seite. In den meisten Studien entspannte sich auch die Beziehung zwischen Angehörigen und Patienten, da die Ergotherapie ihnen ein Instrument an die Hand gibt, den Alltag gemeinsam und konstruktiv zu bewältigen. Graf fasst es so zusammen: „Alle kommen hinterher besser miteinander aus.“

Netzwerke für Demenzkranke

Kompetenznetz
In den Demenzsprechstunden der Kliniken gibt es mitunter lange Wartezeiten. Daher lohnt sich für Betroffene und Angehörige ein Blick auf verschiedene Internetportale. Die Seite des Bundesministeriums für Familie und das Kompetenznetz Demenzen bieten hilfreiche Informationen.

Stuttgart
Speziell für Stuttgart gibt es ebenfalls ein Internetangebot zum Thema Demenz. Und in der Rubrik „hilfreiche Adressen“ finden sich wiederum Verweise auf weitere Angebote.