Als Hitler der Saft abgedreht wurde: Ein Erinnerungsrundgang zum 90. Jahrestag der ersten Widerstandsaktion tapferer Kommunisten im Stuttgarter Osten.

 

Sie haben Hitler das Wort abgeschnitten. Buchstäblich, mit einem Axthieb. Am 15. Februar 1933, als der Führer in der Stuttgarter Stadthalle vor 10 000 Zuhörern den Wahlkampf eröffnete. Mit einer Rede, die im Radio und auf den Marktplatz übertragen wurde, um der NSDAP am 5. März endlich eine Mehrheit zu verschaffen. Die Geschichte vom „Stuttgarter Kabelattentat“ junger Kommunisten aus dem Stuttgarter Osten wird gern mit einigem Lokalstolz erzählt. Aber wo bleibt die angemessene Würdigung? Und warum wurde bis heute den widerständigen Saboteuren Alfred Däuble, Hermann Medinger, Wilhelm Bräuninger samt dem Ideengeber Theodor Decker kein Denkmal gesetzt? Mit einem Erinnerungsrundgang am 90. Jahrestag des Kabelattentats wollte der Lern- und Gedenkort Hotel Silber gegen dieses „Versäumnis“ ein Zeichen setzen, sagte Elke Banabak. Mit überwältigender Beteiligung, darunter den Nachkommen von Wilhelm Bräuninger.

Eine Spurensuche, um gegen das Vergessen zu kämpfen

Die Spurensuche beginnt in der Neckarstraße am Zeppelin-Gymnasium. Geleitet von Kennern, die die Spaziergänger an einem immensen Wissen teilnehmen lassen, mit vielen Details ein lebendiges Zeitkolorit erschaffen, mit Anekdoten wie Ebbe Kögel (Die Anstifter) urschwäbische Heimatkunde bieten und vor allem eines wollen: gegen das Vergessen kämpfen und mahnen. „Hier war das Telegrafenbauamt“, wies Rolf Schlenker auf das Nachbargebäude. Theodor Decker habe hier gearbeitet, sagt der Autor des 2022 erschienenen Buches „1933 – Ein Beil gegen Hitler“. „Decker war wohl kein Kommunist, aber Antifaschist“, berichtet Gudrun Greth von der Stolperstein-Initiative im Osten. Daher habe er Däuble, Medinger und Bräuninger verraten, dass die überwiegend unterirdisch verlegten Übertragungskabel an zwei Stellen offen zugänglich an Hauswänden verlaufen: In den Hinterhöfen der Häuser Neckarstraße 220 und Werderstraße 14. Selbst mitmachen wollte Decker nicht.

Als die SA kam, redete man sich mit amourösen Absichten heraus

Punkt 20.20 Uhr sollte Hitler seine Rede beginnen. Im Hinterhof der Neckarstraße 220 war Medinger schon einem Kumpan auf die Schulter gestiegen, um das Kabel zu erreichen, wollte gerade die Axt zücken, „da sahen sie sich im Lichtstrahl der Taschenlampen der SA“, erzählt Schlenker. Aber sie konnten sich mit angeblichen amourösen Absichten rausreden: „Mer wird ja wohl noch sei Mensch (also sein Mädchen) bsucha dürfa“, habe Medinger gesagt, berichtet Ebbe Kögel, der wie Medinger aus Stetten im Remstal stammt und die Geschichten aus erster Hand kennt. Also auf in die Werderstraße! Bis Zäune überwunden, Huckepack-Hilfe mit der Räuberleiter geleistet und zur Sicherheit beide dort vorgefundenen Kabel durchtrennt waren, tönte Hitler aus den Volksempfängern. Erst um 21.17 Uhr, acht Minuten vor dem geplanten Ende der Führerrede, war Funkstille.

Die Saboteure, aufgeflogen nur durch einen Wirtshausstreit und Denunziation, kamen mit Haftstrafen für Sachbeschädigung glimpflich davon und überlebten. „Unser Vater hat oft davon erzählt und blieb seiner politischen Gesinnung treu“, berichtete Wilhelm Bräuninger. Verhaftet ohne Angabe von Gründen und 1944 im KZ Mauthausen umgebracht wurde Theodor Decker, für den ein Stolperstein verlegt wurde. Erst 1990 hörte seine Familie die tragische Wahrheit: „Decker wurde Opfer einer Verleumdung bei der Polizei aus Eifersucht“, sagt Schlenker.

„Das war die erste und für lange Zeit auch die letzte Widerstandsaktion“, betonte Gudrun Greth. „Darauf könnte Stuttgart schon ein bisschen stolz sein und das auch mit einer Würdigung zeigen“, sagt Elke Banabak vom Hotel Silber. Wilhelm Bräuninger und seine Brüder wären darüber glücklich: „Wir sind sehr stolz auf unseren Vater.“