Ihre Ur- und Ur-Urgroßväter, die im Ersten Weltkrieg kämpften, waren nicht viel älter als sie heute: Jugendliche aus Ludwigsburg und Montbéliard haben in ihren Familien berührende Zeugnisse aus dieser Zeit gefunden – und sie in einem beispielhaften Projekt aufgearbeitet.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Ludwigsburg - Es gibt Situationen, da schrumpft die Bedeutung materieller Gaben im gleichen Maße, wie der Ernst der Gedanken wächst – und wo in der Lebensblüte stehende junge Kerle wie Franz Goebel Worte zu Papier bringen, wie sie nur ein Heranwachsender formulieren kann, der dem Abgrund ins Auge geblickt hat.

 

„Heute will ich dir einmal ein Brieflein schreiben und zwar aus Dankbarkeit, aus heißer Dankbarkeit. Bin noch gesund und munter und wünsche es von ganzem Herzen dir, Mama und Papa. Heute gelangte das Paket mit Kunsthonig und das andere Paket mit Zwetschgen-Marmelade in meine Hände. Ich kann dir ja nur ein Brieflein schreiben zum danken. . . Bin durch schöne französische Städtchen und Dörfchen gekommen, wo wunderbare Sachen ausgestellt waren. Aber was soll ich kaufen und was hat es Zweck? Ich habe dir schon einmal geschrieben, wenn ich gesund zurückkehre, dann ist das Geschenk genug, und wir können uns miteinander freuen. Hoffentlich kommen auch bald wieder diese Tage, wo wir wieder ein Wort reden können, dann machen wir uns, wenn Gott will, auch noch sonnige Tage, Tage der Rosen.“

Das „geliebte Louischen“ teilte Sorgen und Nöte

20 Jahre alt war Franz Goebel, als er 1918 diesen Brief von der Front in Frankreich an seine Schwester, „das geliebte Louischen“, schrieb. Elina Köhler ist 15 Jahre alt. Sie ist Franz Goebels Urenkelin, und seine Feldpost-Briefe aus dem Ersten Weltkrieg zählen zu der Kategorie von Geschenken, deren immaterieller Wert unschätzbar ist.

Für die Schülerin trat damit nicht nur ein schemenhafter Vorfahre aus dem Schatten des Vergessens und kam ihr sehr nahe. Ihr halfen die 100 Jahre alten, aber in ihrer Dichtheit und poetischen Sprache so präsenten Briefe auch bei der Feinjustierung ihres eigenen Lebens. „Oft hat er seine Briefe mit ,Ich lebe noch’ angefangen. So etwas liest sich nicht so leicht“, sagt sie.

Franz sah Freunde sterben und wusste, dass auch für ihn jeder Tag der letzte sein konnte. Wenn er „letzte Liebesdienste“ erwähnte, bedeutete das, dass er Kameraden zu beerdigen half, die im Kugelhagel gestorben oder von Granaten zerrissen worden waren. „Wenn man versucht, das nachzuempfinden, weckt das eine andere Sichtweise“, erklärt Elina. „Es ist nicht selbstverständlich, in Frieden und ohne Angst leben zu können.“

Eine Ahnung von der Dimension des Grauens

Elina bekam die Briefe ihres Uropas von dessen Sohn, ihrem Opa. Dass die Enkeltochter unverhoffterweise Interesse an der angegilbten Korrespondenz zeigte, bedeutet ihm viel. Doch bedurfte es einer Initialzündung, um dieses Interesse zu wecken. In diesem Fall war es ein an den Ersten Weltkrieg anknüpfendes Friedens- und Völkerverständigungsprojekt des Goethe-Gymnasiums, das Elina besucht, und dessen französischer Partnerschule Collège Guynemer in Montbéliard.

Familienfunde als Glücksfall

Die Schüler trafen sich in Frankreich und näherten sich dem für ihre Generation abstrakten Krieg über konkrete historische Zeugnisse an: über Feldpostbriefe des Mann+Hummel-Gründers Adolf Mann und des französischen Soldaten Robert Fernier, aber auch durch Briefe und Objekte aus ihren eigenen Familien. Dass das Stöbern im Familienfundus nach so langer Zeit überhaupt noch solche Relikte zutage förderte, war ein Glücksfall, sagt die Französisch-Lehrerin Kathrin Küßner, die das Projekt mit betreute. „Die französischen Schüler haben sogar noch mehr gefunden, zum Beispiel Identifikationsmarken oder Granatenkoffer. La Grande Guerre ist im französischen Bewusstsein viel stärker verankert als der Erste Weltkrieg bei uns, wo der Zweite Weltkrieg die Erinnerung dominiert.“

Bei den Schülern hinterließ die in die persönliche Vergangenheit hineinspielende Beschäftigung mit dem Geschehen von damals tiefen Eindruck. Sie besuchten auch Schauplätze an der Somme, wo 1916 mit 1,1 Millionen Toten eine der verlustreichsten Schlachten des Krieges tobte. Heute liegen sie friedlich da. „Es war schwer, sich das als Schlachthof vorzustellen“, sagt Elina. Doch in Kombination mit Soldatenfriedhöfen und Tausenden von Kreuzen vermittelten diese Orte eine Ahnung von der Dimension des Grauens, das ihre Vorfahren erlebten.

Ein kleines Menschenkind, das noch nie Unrecht tat

Auch Wilhelm Thiemer hielt der Gedanke an die Familie aufrecht, wenngleich ihn parallel die permanente Sorge um seine drei Kinder umtrieb, „für die doch ohne mich niemand so recht sorgen kann“. Im Juli 1918 schrieb der Jurist an seinen Bruder Fritz, der sich ebenfalls an der Front befand, aus dem französischen Libramont: „Deine Bilder stehen vor mir, mitten dazwischen gemengt das Bild unseres Kleinsten, des Volkmar, der ein lieber Junge geworden ist. Ich werde dir nächstens ein Bild von ihm mitschicken. Der Besitz eines Bildes von einem kleinen Menschenkind, das noch nie Unrecht tat, muss doch Glück bringen.“ Das Glück sollte dem Bruder nicht beschieden sein: Er fiel kurze Zeit, nachdem er Wilhelms Brief erhalten hatte.

Preiswürdiges Projekt

Den Feldpost-Brief wollte die in Erfurt lebende Oma der Ludwigsburger Zehntklässlerin Anna Colletti zunächst nicht aus der Hand geben, überließ ihrer Enkelin das Original dann aber doch. Mittlerweile haben die Schülerinnen die Briefe ihrer Vorfahren unter anderem bei der Gedenkfeier zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren auf dem Alten Friedhof vorgelesen. Und der Oberbürgermeister Werner Spec war von dem deutsch-französischen Projekt so angetan, dass Ludwigsburg und Montbéliard einen mit 5000 Euro dotierten und nach dem Städtepartnerschafts-Initiator Lucien Tharradin benannten Preis auslobten und das Goethe-Gymnasium und das Collège Guynemer zu den ersten Preisträgern kürten. Am Goethe-Gymnasium überlegt man, das Preisgeld in Recherchen über Lucien Tharradin einfließen zu lassen. Der ehemalige Bürgermeister von Montbéliard saß im Zweiten Weltkrieg als Widerständler im KZ Buchenwald.

Wenn Elina und Anna an Familie, an Frieden oder Feste wie Weihnachten denken, gehören Franz Goebel und Wilhelm Thiemer jetzt automatisch dazu. „Wir sollten hoffen, dass die deutsch-französische Freundschaft weitergeht, und froh sein mit dem, was wir haben“, sagen sie, „und nicht so oft denken, dass es anderen besser geht.“