Bei einer Begegnung im März hat Martin Roth erzählt, was ihn geprägt hat: der Bildungshunger, den er von seinen Eltern geerbet hat, und das Selbstverständnis, sich Kultur anzueignen.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Ein Treffen mit Martin Roth hieß erst mal, ihn teilen zu müssen, zumal in Stuttgart. Kaum war er da, war er umringt von Menschen, die ihm ihre Visitenkarte zuschoben und am liebsten gleich einen Termin für die nächste Rede ausgemacht hätten. Besonders war das so, nachdem der Museumsmanager 2016 in London als Direktor des Victoria-und-Albert-Museums hingeschmissen hatte, weil der bevorstehende Brexit seinem Verständnis vom Zusammenleben der Völker zuwiderlief. Irgendwohin, so die Hoffnung derer, die seinen Mut zur Meinung schätzten, muss diese Energie doch hin. Beim Institut für Auslandsbeziehung (ifa) dockte der 62-Jährige als Präsident an, sagte aber immer, dass er niemandem die Arbeit streitig machen wolle. Bei der Initiative Offene Gesellschaft wurde er zum Mitstreiter für eine solidarische Welt europäischer Werte. Aber keiner wollte Roth glauben, dass er keine weiteren beruflichen Pläne verfolgte, sondern einfach nur das Treibenlassen genießen wollte.

 

Als die Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württembergs im März ihren dreißigsten Geburtstag feierten, hielt Roth die Festrede im Neuen Schloss, frei und brillant. Kaum war der Applaus verhallt, war er umringt von Menschen, die ihn willkommen heißen wollten in der alten Heimat – obwohl seit langen Jahren Berlin sein Lebensmittelpunkt war – oder eben mit ihm planen wollten. Der stets adrett gekleidete, hochaufgeschossene Weltmann sagte in fast britischer Höflichkeit, er habe seinen Kalender gerade nicht dabei. Und wenn man ihm eine Visitenkarte zusteckte, erklärte er mit der Selbstverständlichkeit, wie es nur Menschen können, die einen unerschütterlichen inneren Kompass haben, dass er gerade keine Visitenkarte habe. Das klang nicht unglücklich. Es klang auch ein bisschen befreit. Wer ihn finden wollte, würde ihn finden und fand ihn.

Schwäbische Sozialisation

In seiner Rede im Neuen Schloss sprach er von der Wirkung und Bedeutung historischer Gebäude auf Menschen. Dabei gab er viel von sich und der Prägung durch die Eltern preis, deren einziges Kind er war. Der Bub bekam die Bildung, die ihren durch die vom Zweiten Weltkrieg abgebrochenen Biografien verwehrt worden war. Die existenzielle Erfahrung des Krieges, die katastrophalen Folgen von übersteigertem Nationalismus sei im Leben seiner Eltern prägend gewesen.

Vieles im Handeln des Sohnes liegt in dieser Erfahrung begründet. „Dafür bin ich ihnen dankbar“, sagte er, und das war spürbar beim Treffen im Kleinen Haus des Staatstheaters im März. Noch einmal ist er zurückgekehrt zu den Wurzeln. Es war eine emotionale Exkursion in die Vergangenheit, auf die er sich mit ein bisschen Herzklopfen einließ. Gerlingen, das war der Ort der Kindheit. Von dort fuhr oder wanderte die Kleinfamilie oft auf die Schillerhöhe und zum Schloss Solitude. Für Roths Eltern war es der Ort, „wo dr Vaddr vom Schiller gschaffd hat“. So geht schwäbische Sozialisation: Dem Weltbürger war das kein bisschen peinlich. Er kannte den Ort, bevor er wusste „wer dieser Schiller war“.