Als Elli Staudt und Wilhelm Eberhardt im Herbst 1950 zum Traualtar schritten, wurde das auch eine Schicksalsstunde für die Gemeinde auf der anderen Seite des Engelbergs.

Hochzeit in Eltingen, 11.11.1950 – steht mit Bleistift auf der Rückseite der fünf Foto-Ansichtskarten, die das Stadtarchiv Leonberg jüngst erworben hat. Sie stammen aus der ehemaligen Fotografie-Werkstätte von Elsa Widmaier in der Eltinger Hindenburgstraße 38 und waren auf unergründlichen Pfaden in die Bestände eines Berliner Händlers für Ansichtskarten gelangt. Doch was ursprünglich als fotografischer Beleg für Eltingens städtebauliche Umgestaltung in den vergangenen 70 Jahren gedacht war, hat sich als interessantes Zeitdokument mit viel Lokalkolorit erwiesen.

 

Die Carl-Schmincke-Straße ist noch eine Dorfstraße

Die Damen der eleganten Hochzeitsgesellschaft schreiten auf Stöckelschuhen durch recht morastige Straßen. Das können sie, weil die Hauptstraße noch nicht Teil der B 295 ist. Denn in Leonberg verlief diese erst ab 1969 über die Feuerbacher Straße, die Grabenstraße, die Eltinger Straße, die Leonberger Straße und dann über die Carl-Schminke-Straße, bevor sie später als Renninger Straße mit einer Brücke über die Autobahn 8 weitergeführt wurde.

Angesichts der prächtig ausstaffierten Hochzeitsgesellschaft müsste mehr über dieses Ereignis bekannt sein, sollte man meinen. Doch die ehemalige Stadtarchivarin Bernadette Gramm muss zuerst passen. Erst 80 Jahre nach einem Familienereignis bekommt das Stadtarchiv Zugriff auf die Daten des städtischen Standesamtes.

Vater Staudt ist ein umtriebiger Autofachmann

Aber es gibt ja noch das Zeitungsarchiv der „Leonberger Kreiszeitung“. Und hier wird die Stadtarchiv-Mitarbeiterin Birgit Schneider fündig. Zwei Anzeigen geben Aufschluss über das freudige Ereignis. In einer geben die Vermählten Wilhelm Eberhard aus Frankenbach/Botenheim und Elli Eberhard, geborene Staudt, aus Eltingen ihre kirchliche Trauung um 14 Uhr in Eltingen bekannt. Die zweite Anzeige bringt noch mehr Klarheit: „Wegen Familienfeier bleibt unser Betrieb am Samstag, 11. November, geschlossen. Auto-Staudt, Leonberg-Eltingen.“ „Die Braut war die Tochter des bekannten Eltinger Kfz-Meisters Heinrich Staudt“, sagt Bernadette Gramm.

Heinrich Staudt (1887–1979) ist bekannt, ihm wurde am 12. November 1962 anlässlich seines 75. Geburtstags am 14. November die Leonberger Ehrenbürgerschaft verliehen. Von dem umtriebigen Fachmann, der in Eltingen für die Automarken VW und Audi stand, heißt es, er sei ein streng praktizierender Pietist gewesen. Seine religiöse Gesinnung war für Heinrich Staudt Antrieb, die Arbeit zu würdigen und fortschrittlich zu sein.

So ist es wohl kein Zufall, dass in der Bibliothek des Deutschen Museums in München sein Name im Patentblatt für das erste Vierteljahr 1931 auftaucht. Hier ist er mit einem Gebrauchsmuster verzeichnet. Ein solches gilt als der „kleine Bruder“ eines Patents und ist ein Schutzrecht des gewerblichen Rechtsschutzes. Was er sich für zehn Jahre schützen ließ, ist allerdings nicht überliefert. Heinrich Staudt war der Gründer des Autohauses Auto Staudt und hatte vier Kinder: Hermann, Willi, Paul und Elli.

Der Bräutigam ist kein unbeschriebenes Blatt

Die 22-jährige Elli Staudt war also die Braut, aber wer war der Bräutigam? Die Antwort kennt der Eltinger Lokalhistoriker Konrad Fröschle, ein menschliches Lexikon der Ortsgeschichte sozusagen. „Der ist doch hier in der Gegend ein bekannter Mann“, sagt er. Es ist der Verwaltungsfachmann Wilhelm Eberhard, der nach seiner Staatsprüfung 1948 seine erste berufliche Station am Landratsamt Leonberg hatte.

Da war der Weg bis nach Eltingen nicht weit. Nach einem kurzen Zwischenspiel im Innenministerium in Stuttgart bewarb er sich im Alter von 27 Jahren als Bürgermeister in Frankenbach bei Heilbronn, wo auch der Sohn und die Tochter des Paares geboren wurden.

Und nun kommt das Wissen des Gerlinger Stadtarchivars Klaus Hermann ins Spiel. Nach fünf Jahren drang die Kunde von dem tüchtigen jungen Bürgermeister bis nach Gerlingen. Und so machte sich eine Gruppe Gemeinderäte auf, den Frankenbacher Schultes zu überzeugen, in Gerlingen anzutreten – und das, obwohl bereits ein Dutzend Kandidaten ihren Hut in den Ring geworfen hatten. Das ist der Stoff, aus dem Legenden entstehen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Wilhelm Eberhard wurde 1955 im ersten Wahlgang zum Bürgermeister in Gerlingen gewählt. Und er wurde der Architekt, der die 7000-Einwohner-Gemeinde zu einer Stadt machte mit aktuell der höchsten Kaufkraft pro Kopf im Land.

Unter Eberhard entwickelt sich Gerlingen rasant

Jeder Gerlingerin und jedem Gerlinger, ob jung oder alt, stehen knapp 9000 Euro im Jahr zur Verfügung, um damit den Einzelhandel zu beglücken. Nach drei Jahren mit Wilhelm Eberhard an der Rathausspitze, hatte Gerlingen 10 000 Einwohner und wurde 1958 zur Stadt erhoben. Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs der Region wurde die Stadt von einer Zuzugswelle erfasst. Dafür geordnete Bahnen zu schaffen, war die Herausforderung. Weltfirmen wie Bosch siedelten in Gerlingen an. Tausende Arbeitsplätze entstanden. Weitere 5000 Einwohner kamen hinzu.

Schnell erkannte der Bürgermeister, dass ohne eine stimmige Wasserversorgung keine Entwicklung möglich ist, und so sicherte er für kommende Generationen erhebliche Bezugsrechte bei der Bodenseewasserversorgung. Der Bürgermeister machte sich 1964 für die Partnerschaft mit dem französischen Vesoul stark. Gerlingen wurde auf sein Betreiben die Patenstadt der Ungarndeutschen Landsmannschaft, waren doch von den 3000 Heimatvertriebenen im Ort mehr als 1000 aus Ungarn. Die nannten ihn liebevoll ihren „Patenonkel“.

Kampf um die Selbstständigkeit

Schulen, Kindergärten, Sport- und Freizeitanlagen wurden gebaut. Mit dem Rathaus, der Stadthalle und dem Hallenbad wurde eine neue Stadtmitte geschaffen. Bücherei, Archiv, Museum, Jugendmusikschule, Volkshochschule, Jugendhaus kamen dazu. Viel der historischen Bausubstanz im Ortskern wurde saniert.

Anfang der 1970er Jahre kam die Gemeindereform. Die Landeshauptstadt Stuttgart wollte sich das Juwel Gerlingen einverleiben. Aber nicht mit Wilhelm Eberhard: Wie ein Löwe kämpfte er für die Selbstständigkeit, lieferte Gutachten und Stellungnahmen und argumentierte unermüdlich, dass Gerlingen nur Nachteile von einer Eingemeindung erwachsen. Und so konnte er 1973 die Eingemeindung abwehren. In diesem Jahr verlieh ihm der Gemeinderat zum 50. Geburtstag für außergewöhnliche Verdienste um die Stadt den Ehrenring.

Niederlage wegen Leonberger Hochhaus

Auch mit der Nachbarstadt Leonberg legte sich der Gerlinger Bürgermeister an. Als die in den 1970er Jahren auf der Leonberger Heide beim ehemaligen Golfplatz mehr als 20-geschossig bauen wollte, reichte das Gerlinger Rathaus eine Normenkontrollklage gegen das Vorhaben ein. Doch der Investor Ratio ging pleite. Aber auch Gerlingen verlor den Prozess. Die Richter hielten der Klägerin vor, dass eine Stadt, die selbst an so exponierter Lage ein Hochhaus wie die Bosch-Zentrale gebaut hat, es den Nachbarn nicht verbieten könnte, das Gleiche zu tun. Bei allem hatte Wilhelm Eberhard seine Gerlinger hinter sich, denen er „eine lebensfähige und gesunde Stadt geschaffen hat, in der man sich wohlfühlt“, wie es sein Nachfolger Albrecht Sellner 1983 formulierte.

Sein Gesundheitszustand zwang Eberhard jedoch, das Amt des Bürgermeisters niederzulegen, vier Jahre vor Ablauf der regulären Amtszeit. Die Stadt hatte inzwischen rund 18 000 Einwohner (aktuell zählt sie 19 700 Einwohner). Anlässlich seiner Verabschiedung wurde ihm in Würdigung seiner zahlreichen Verdienste um Gerlingen das Ehrenbürgerrecht verliehen.

Elli ist stets an seiner Seite

Von den 214 Straßen Gerlingens trägt keine den Namen eines früheren Bürgermeisters. Jedoch ist ihm ein Gebäude des Altenhilfezentrums Breitwiesenhaus gewidmet. 1978 wurde das Breitwiesenhaus von der baden-württembergischen Ministerin für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung, Annemarie Griesinger (CDU), von Robert Bosch junior und Bürgermeister Wilhelm Eberhard eröffnet. Im Mai 1978 zogen die ersten Bewohner ein.

In all den Jahren war seine Frau Elli an Eberhards Seite: mal still unterstützend, mal aktiv im Vordergrund. Besonders als es um die Partnerschaft mit den Ungarndeutschen ging, war sie außerordentlich rührig. Aber auch, als es darum ging, Kontakte im afrikanischen Ghana aufzufrischen, die der Gerlinger Missionar Johannes Zimmermann Mitte des 19. Jahrhunderts geknüpft hatte. Wilhelm Eberhard ist am 24. August 2003 gestorben, seine Frau Elli am 23. Oktober 2006.