Bei der Organisation des Programms für Raissa Gorbatschowa, der Frau des Kremlchefs, kamen die Mitarbeiter im Staatsministerium 1989 gehörig ins Schwitzen. Der Grund: ein spezielles Anliegen aus Moskau.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Der damalige Protokollchef des baden-württembergischen Staatsministeriums, Albrecht Rittmann, schreibt an einem Buch, das Gorbatschows Staatsbesuch 1989 in Stuttgart behandelt. Daraus Auszüge:

 

„Ein Staatsbesuch eines der mächtigsten Männer der Welt bedarf wochenlanger umfangreicher Vorbereitungen. Als der Rahmenplan fertig war, kam plötzlich Sand ins Getriebe, und zwar wegen des Besuchsprogramms von Raissa Gorbatschowa, die ihren Mann bei seinem Staatsbesuch begleitete. Frau Gorbatschowa lehrte Philosophie und Soziologie an der Moskauer Lomossow-Universität, wo sie als Studentin den Bauernsohn Michail Gorbatschow kennenlernte, der dort Jura studierte. An diesen Hintergrund anknüpfend, stand ein Besuch im Deutschen Literaturarchiv in Marbach auf dem Programm . Doch die sowjetische Seite lehnte ab. Gorbatschow stand wegen seines Reformprozesses innenpolitisch unter Druck. Mit Kritik und Intrigen gegen seine zu glamourösem Auftreten neigende Ehefrau wollte man Gorbatschow politisch treffen. Hoch schlugen die Wellen, als Raissa Gorbatschowa beim Staatsbesuch in Großbritannien ein Luxus-Kaufhaus besichtigte. Das sowjetische Protokoll setzte daher alles daran, seine Frau möglichst volksnah erscheinen zu lassen. Der Wunsch war, eine ,typische schwäbische Familie‘ zu besuchen.

Zwei Versuche schlugen fehl

Was sich zunächst als einfache Aufgabe darstellte, erwies sich als diffizil. Wir kannten niemanden, der den sowjetischen Wünschen gerecht wurde. Schließlich kam mir eine Idee. Im Mai 1988 hatte die Kornwestheimer Salamander AG mit ihrem russischen Partner Lenwest in der Nähe von Leningrad ein Joint Venture gegründet. Raissa Gorbatschowa sollte einen Fabrikarbeiter von Salamander und dessen Familie besuchen. Diese Idee stieß auf sowjetischer Seite auf Wohlwollen. Am nächsten Tag dann der Paukenschlag: die Kornwestheimer Familie hatte den Besuch bereits an eine illustrierte Zeitschrift ,verkauft‘. Ein Unding. Wir mussten mit unserer Suche neu beginnen.

24 Stunden Zeit, um eine „passende Familie“ zu finden

Über eine städtische Wohnbaugesellschaft fand sich eine Familie, die im Stuttgarter Bohnenviertel wohnte. Doch wieder sollte es nicht sein. Nachdem die sowjetische Botschaft über die Namen informiert war, kam prompt die Absage. Begründung: Die Frau sei aus der DDR geflohen. Der sowjetische Geheimdienst hatte einen Eklat verhindert. „Raissa besucht DDR-Flüchtling.“ Diese Nachricht hätte Gorbatschow schwer zu schaffen gemacht und das Verhältnis zur DDR weiter belastet.

Beim Protokoll des Staatsministeriums brach langsam Panik aus. Der Staatsbesuch stand unmittelbar bevor. Jeder war aufgerufen, binnen 24 Stunden nach einer passenden Familie zu suchen. Kurz vor Torschluss kam die erlösende Nachricht. Pressereferent Stefan Barg, zugleich Stuttgarter Stadtrat, hatte den Personalchef der Stuttgarter Stadtwerke angerufen. Dieser schlug einen Mitarbeiter vor, der mit seiner Frau und zwei Kindern in einer kleinen Mietwohnung in Stuttgart-Gaisburg wohnte.

„Wär’se no em Daimler komme . . .“

Am Besuchstag fuhr Raissa Gorbatschowa im hellblauen Kostüm, begleitet von Ursula Späth und dem Tross aus Begleitpersonen, Sicherheitskräften und der Presse dort vor. Viele Schaulustige standen an den Absperrgittern, winkten begeistert und warfen sogar rote Rosen. Drinnen gab es bei Kaffee und einem schwäbischen Guglhupf eine 30-minütige lockere Gesprächsrunde, ganz so, wie es sich die sowjetische Seite wünschte. Nur eines war nicht in ihrem Sinne. Die SIL-Limousine wollte bei der Abfahrt nicht sofort anspringen, was einen Gaisburger, so wird kolportiert, zu der Bemerkung veranlasste: „Wär’se no em Daimler komme . . .“ Im Blauen Salon des Neuen Schlosses konferierten zur gleichen Zeit Gorbatschow und sein Außenminister Eduard Schewardnadse mit Lothar Späth . . .“

Raissa Gorbatschowa starb zehn Jahre später, 1999. Die Stuttgarter Familie will sich zu dem Besuch heute nicht mehr äußern. Die Begleitumstände des Rummels damals lassen sie davon Abstand nehmen.