Kommerzialisierung hin, Skandale her: wer als Kind im Stadion vom Virus der Begeisterung befallen wurde, bleibt ein Leben lang davon gezeichnet. Der Reiz des Spiels scheint unzerstörbar.Wolfgang Borgmann erinnert sich.

Stuttgart - Dieser Tage ist mir das kleine, etwas vergilbte schwarz-weiße Bildchen wieder in die Hände gefallen. Der Vater konservativ-korrekt, der Sohn an Vaters Hand, mit kurzer Hose und Schlips, ein klares Ziel im Blick: das Bremer Weserstadion, das sich mit anschwellender Lautstärke und einem feinen Gemisch aus Tausenden von Zigarettendüften ankündigt. Dieses unglaubliche Hochgefühl, mit der festen Hand des Vaters verbunden zu sein, das Bewusstsein, bald zu dieser Stadiongemeinschaft zu gehören, eine Ahnung von der großen Welt des Fußballs, die fröhliche Hochspannung – dieses Gefühl bleibt ein Leben lang, setzt sich fort von Generation zu Generation.

 

Manni Breuckmann, die legendäre Reporterstimme des Ruhrgebiets, beschreibt, wie auch er an des Vaters Hand die „ersten Schritte in die erregende Welt des Fußballs“ tat, im Ostring-Stadion im westfälischen Datteln, und wie er das erste „überirdische Freistoßtor“ seines Lebens erlebte. Seinem Vater ist er dafür immer dankbar geblieben. So gibt es ungezählte Kindheitserinnerungen, die immer bleiben. Aber warum? Es ist wohl diese prägende Sehnsucht nach der scheinbar unzerstörbaren Welt des Fußballs, die nie ganz vergehen soll, vorausgesetzt, es hat einen mal richtig gepackt. Trotz Krawallen, Skandalen, Kommerz – diese kindliche Sehnsucht scheint unzerstörbar, auch wenn die Zeiten im globalen Fußball zunehmend rauer werden.

Mal freut man sich wie ein Stint, mal fließen die Tränen

Man fängt mit sechs, sieben Jahren an, freut sich auf jedes Spiel wie ein ,,Stint“ (norddeutsch: kleiner, junger Fisch), wenn der Heimatverein gewinnt, heult, wenn, was passieren kann, dieser verliert und ist auch mit über zwanzig vor Rührung den Tränen nahe, wenn dieser, auch das soll vorkommen, mal deutscher Meister wird. Dazwischen liegt eine unbedeutende Fußballerkarriere, in der zweiten Reihe. Dazu gehört als einsamer Höhepunkt ein Vorspiel vor einem Profitreffen, wobei die Beine gleich so schwer werden, dass sie kaum noch tragen wollen. Mit zwanzig hat es sich meistens ausgespielt, dann kommt der angebliche Ernst des Lebens, aber der richtige Spaß bleibt dann am Wochenende, wenn nicht im Stadion, dann bei der kultigen Radio-Konferenzschaltung in Häppchen-Portionen. Sie gibt es seit Jahrzehnten.

Schulfreund Manne, der Kleinste und der Jüngste in der Klasse, hielt es während eines Klassentreffens nicht länger am schön gedeckten Tisch, als die Zeit für die Bundesliga-Konferenzschaltung nahte. Mitten in die erinnerungsträchtige Rede des langjährigen Klassensprechers hinein stand er auf und bat leise um Verständnis dafür, dass er sich vor ein Radio setzen müsse. Man verstand ihn nur allzu gut. „Mit Fußball kommst du ein Leben lang durch die Welt“, gab mir mein Vater einst mit auf den Weg, der dieses nützlich-schöne Thema nicht nur privat, sondern auch als Handelsvertreter geschäftlich im Gespräch mit Kunden zu nutzen verstand. Und er sollte recht behalten.

Hie Werder, da der VfB – in gegenseitigem Respekt

Als Hans Blickensdörfer, der legendäre Sportreporter der Stuttgarter Zeitung und erfolgreiche Romanautor (,,Die Baskenmütze“), seine maßlose Enttäuschung über den Abstieg des VfB, dem Werder in den siebziger Jahren den letzten Tritt versetzte, kaum noch bändigen konnte, da schmiss er dem jungen Kollegen in der Setzerei des Tagblatt-Turms den unvergessenen Satz an den Kopf: Es sei ungeheuerlich, dass „ein Bremer an einer schwäbischen Lohntüte riechen“ dürfe. Doch bald redeten wir wieder miteinander, über Fußball. Es blieb die gemeinsame Sprache. Und selbst im tiefsten Zorn blieb die Sympathie füreinander erhalten, wusste man doch, dass man im Prinzip die gleiche Leidenschaft teilt.

Man muss wohl im tiefsten Inneren ein Kind bleiben, um sich die Fähigkeit zur Begeisterung für die einst schönste Nebensache der Welt zu erhalten, die ihre Unschuld schon lang verloren hat. Eine besonders anrührende Geschichte ist bei dem englischen Autor Nick Hornby in seinem verfilmten Erfolgsroman „Fever Pitch“ nachzulesen. Dessen Welt ist alles andere als heil, das Buch spielt im ärmeren London und handelt auch von einer Vater-Sohn-Beziehung, die über die gemeinsame Fußballliebe funktioniert. Sie bleibt nach der Scheidung der Eltern das wichtigste emotionale Band. Wenn beide sich am Wochenende zum Match der Heimmannschaft aufmachen, da können sie reden, natürlich über Fußball, aber immerhin. Eine Möglichkeit, die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen zu überwinden und ein Stück kindlicher Freude zu erhalten.

Die Hoffnung stirbt zuletzt. Manchmal in der Nachspielzeit

Der Arsenal-Fan Hornby beschreibt auf geradezu rührende Weise, wie fußballbegeisterte Männer (von Frauen ist kaum die Rede) auch noch als Vierzig- und Fünfzigjährige unverdrossen zum Fußballplatz trotten, immer in der Hoffnung, die launenhaften Diven auf dem Rasen könnten doch zu dauerhafter Beständigkeit finden, und am Ende immer wieder enttäuscht sind. Aber sie geben die Hoffnung selbst in den düstersten Momenten nicht auf und setzen auf das nächste Mal.

Fußball, so meint der deutsche Sportjournalist Ronald Reng, sei der Sport, in dem ein ,,winziger Moment alles auf den Kopf stellen kann“. Wer denkt da nicht an 1999, als die Bayern gegen Manchester United in Barcelona durch zwei Gegentore in drei Minuten Nachspielzeit das Champions-League-Finale verloren, das sie schon sicher gewonnen glaubten? Die heutige Generation wird mit den Bildern von Bayerns geschlagenen Spielern aufwachsen, die, obwohl klar überlegen, im Champions-Finale gegen Chelsea am Ende alles verspielten. Wie eng liegen abgrundtiefe Enttäuschung und grenzenlose Freude nebeneinander, extreme Lebensgefühle, die sich jederzeit auf den Zuschauer übertragen können!

Das Spiel verheißt befreiende Erlebnisse

Es gibt in jeder noch so großen und noch so kleinen Fußballerkarriere den Augenblick, den man nicht vergisst, dieses unglaubliche Gefühl, für einen Moment dem Himmel näher gekommen zu sein. Wie damals, als 16-Jähriger, als der „Lange“ kurz vor Spielende als letzte Hoffnung zum Freistoß zitiert wird und aus 30 Metern den Ball unter die Latte zum 2:2-Ausgleich drischt. Unendliches Glück, umarmende Mitspieler, fassungslose Gegenspieler und die Staffelmeisterschaft. Diese Erinnerung bleibt bis heute lebendig und verdrängt die weniger geglückten Momente.

Heute, im gereiften Alter, ist die Sehnsucht nach dem befreienden Erlebnis Fußball noch nicht vergangen, auch wenn der innere Groll gegen die Millionengehälter der Fußballstars, gegen das große Geschäft mit dem Fußball zunehmend stärker wird. Da verwandeln sich erinnerungsträchtige Stadien in mit Werbung zugepflasterte Arenen, selbst die Spieler scheinen Reklametafeln auf zwei Beinen zu ähneln. Dieser entsetzliche Werberummel, der jeden Torschrei zu ersticken droht, all das und vieles mehr lässt die scheinbar unzerstörbare Fußballsehnsucht manchmal verstummen. Aber das ist nicht von Dauer. Spätestens mit Beginn der neuen Bundesliga-Saison kommt die alte Leidenschaft zurück.

Es muss ja nicht immer das Großereignis sein, die große Kulisse im Neckarstadion. Als vor nicht langer Zeit die Stuttgarter Kickers auf der Waldau vor 4000 Zuschauern vorzeitig den Aufstieg von der vierten in die dritte Liga schafften, da verbreitete sich wieder dieses altbekannte, vom Bauch ausgehende Wärmegefühl. Die Lippen leise bewegend (,,Nie wieder vierte Liga“), dezent im Rhythmus der Fangesänge sich wiegend, macht selbst der mit, dessen ursprüngliche Heimat das Bremer Weserstadion ist. Auf dieser momentanen Seelengemeinschaft zwischen höchst unterschiedlichen Menschen basiert die Faszination des Fußballs.

Wo alt und jung sich die Hand reichen können

Auch im fortgeschrittenen Alter kann einer die Liebe zum Fußball intensiv erleben, auf seine Art. Ein Freund pilgert in Bonn gerne mal zur nahe gelegenen Sky-Kneipe mit irischem Guinness-Duft und lässt sich ein bisschen anstecken von diesem emotionalen Hochgefühl von Fans, die jederzeit bereit sind, den Fremdling in ihre Mitte aufzunehmen – solange er auf ihrer Seite ist. Den heutigen Bundesliga-Fußball, der nun in schicken Arenen und nicht mehr, wie zu seiner Zeit, in heimeligen Stadien stattfindet, erlebt er eher virtuell, kann aber die Emotionen nachempfinden. Tatsächlich stirbt bei wirklichen Fußballfreunden dieses Gefühl fast nie.

Eine junge Kollegin, die geschworen hatte, nie in ihrem Leben ihre Kinder zum Fußball zu begleiten, weil sie selbst als kleines Mädchen unter der pflichtgemäßen Begleitung ihres Vaters zum Fußballspiel gestöhnt hatte und missmutig hinter dem Tornetz hin und her getrabt war, auch sie begleitet wie selbstverständlich den heute zwölfjährigen Sohn und erfreut sich an dessen Leistung und Spielfreude. Ihr Vater hatte das noch miterleben dürfen. Das Band zwischen Sohn und Großvater riss erst durch den Tod des Großvaters. Aber es wird in Gedanken intakt bleiben.

Als bei der Weltmeisterschaft 1954 der Rundfunkreporter Herbert Zimmermann das 3:2-Siegtor von Helmut Rahn mit sich überschlagender Stimme hinausschrie in den Äther, als er keuchte, „halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt“, da lagen wir uns alle drei, Vater, Bruder und ich, die sich um den Rundfunkapparat versammelt hatten, in den Armen, während die Mutter, wie es üblich war, den Kaffee vorbereitete. So nah sind wir uns vielleicht nie wieder gekommen.