Erinnerungsbilder zeugen von Geburten und Todesfällen, Hochzeiten und Jubiläen. Vor allem im 19. Jahrhundert waren die Schaukästchen beliebter Schmuck in den Wohnzimmern. Das Denkendorfer Heimatmuseum zeigt eine ganze Reihe davon.

Ein verblichener Brautkranz, sorgfältig eingebettet in Satin, Kunstblumen und Engelbildchen, die an verstorbene Kinder erinnern, aber auch gestickte Danksagungen von Konfirmandinnen an die Paten oder Collagen aus Fotos und Stickereien zum Gedenken an verstorbene Soldaten: Das Denkendorfer Rolf-Deuschle-Heimatmuseum verfügt über eine große Zahl an Erinnerungsbildern, die zum Teil als Schaukästen gestaltet sind, oft aber auch in Form kunstvoll gestickter oder gemalter Briefe, Dankesbekundungen oder Segenssprüche. Manche erinnern an Reliquienschreine.

 

Der Pietismus pflegte die Tradition besonders stark

Aus den Bildern lassen sich Familienschicksale herauslesen. „Als Teil der Memorialkultur gingen die Erinnerungsbilder von den höheren Ständen ins Volk über“, weiß die Esslinger Kulturwissenschaftlerin Christel Köhle-Hezinger. Im Adel habe man Erinnerungen immer gepflegt, in Form von Bildern oder Hausaltären. Im 18. Jahrhundert beginnt die Tradition der Erinnerungskästchen. Damals begann sich die bürgerliche Familienstruktur zu wandeln hin zur Kleinfamilie, in der der Hausvater im Mittelpunkt stand, erläutert Köhle-Hezinger. Mit der veränderten Familienkultur kamen die Erinnerungsbilder auch im Bürgertum auf. Sie zierten die gute Stube. „Sie versinnbildlichen Stufen und Rituale des Lebens“, sagt Köhle-Hezinger.

Ähnlich wie Reliquien gehörten sie zu einer alten Kulturtradition. „Verdinglichte Erinnerung gibt es seit dem Mittelalter“, weiß die promovierte Kulturwissenschaftlerin. Ihre Blütezeit hatte diese Form Erinnerungskultur im 19. Jahrhundert. „Der Pietismus pflegte die Tradition der Erinnerungsbilder, die eng mit dem Glauben an die Ewigkeit verbunden ist, besonders stark.“ Die Namen der Toten waren nicht nur im Himmel geschrieben, die Verstorbenen waren auch auf Erden immer präsent. Die Bilder zeigen laut Köhle-Hezinger, dass die Menschen viel stärker als heute in der Überlieferung lebten. „Durch Präsenz wurde die Erinnerung am Leben gehalten.“ Der Wandschmuck sei schon aus Pietät nicht etwa entsorgt, sondern vererbt worden.

Mit Beginn des 19. Jahrhunderts erlebten die Gedenkbilder einen Aufschwung – zunächst im Bürgertum und später in der ländlichen Bevölkerung. „Auch Bauern hatten damals eine gute Stube“, sagt Köhle-Hezinger. Doch seien es vor allem wohlhabende Denkendorfer Bauern gewesen, die sich solche Erinnerungsstücke leisten konnten, meint Rolf Deuschle, der Leiter des örtlichen Heimatmuseums. Viele der Stücke lagerten lange vergessen auf Denkendorfer Dachböden und wurden bei Entrümpelungen wiederentdeckt. Etwa 20 tiefe Bilder in Form von Schaukästen und bis zu 40 flachere Exemplare verwahrt man im Museum. Dabei handelt es sich überwiegend um gestickte Sinnsprüche oder Widmungen, die an Ereignisse wie Konfirmation, Trauung oder auch Todesfälle erinnern. Aber auch besondere Anlässe wie etwa die Rekrutenausbildung oder Turnfeste wurden in dieser Form festgehalten.

Die Kästchen erzählen ganze Geschichten

Das älteste Kästchen im Museum in Denkendorf stammt von 1842 und wurde aus Anlass des Todes von Christiane Gröber gestaltet. Verblasste Kunstblumen und Stoffbänder umrahmen als Kranz die handgeschriebene Inschrift. Am oberen Rand lässt sich der Vermerk über ein zweites verstorbenes Kind lesen. „Weil die Kästen geöffnet werden konnten, waren Nachträge möglich“, erklärt Richard Butz vom Heimatmuseum. Ein ähnliches Kästchen erinnert an die 1901 und 1903 verstorbenen Kleinkinder Wilhelm und Richard Eugen Beichter. In den Blumenkranz sind kleine Engelsfiguren eingearbeitet. Eine ganze Geschichte erzählt auch die Erinnerung an den 1843 geborenen Gottlieb Keller. Er wurde als Soldat 1870 im Krieg durch einen Steckschuss verletzt und starb 1873 an den Folgen. All das kann man nachlesen. Das Geschoss bewahrt das Heimatmuseum übrigens ebenfalls auf.

Besonders prunkvoll ist das Bild, mit dem Christine Gerstenmaier und Johann Georg Müller ihres Hochzeitstags im Jahr 1907 gedenken. Jeder Buchstabe der Inschrift ist einzeln aus Holz ausgesägt und aufgeklebt. Die häufigste Erinnerung an die Hochzeit jedoch besteht aus Brautkränzen hinter Glas. Nicht selten vermerkt ein gesticktes Herz im Zentrum die Namen der Brautleute samt Hochzeitstag.

Spätestens mit dem 2. Weltkrieg endete die Tradition der Erinnerungsbilder

Auffallend ist, dass sich Gestaltung und Materialien in vielen Fällen gleichen. Die Kästen wurden mit Halbfertigprodukten etwa aus Stoff, Papier oder Glasperlen bestückt, die auf Märkten und in Läden gekauft und dann individuell zusammengestellt und durch Persönliches ergänzt wurden, erklärt Köhle-Hezinger. „Kunstblumen waren damals ein Riesenmarkt.“ Auch die Brautkränze waren oft aus künstlichen Blüten gewunden. Zudem gab es gestanzte und geprägte Luxuspapiere und mit Ornamenten oder Blüten verzierte Briefvorlagen zu kaufen. Verwendet wurde zudem Gold- und Silberpapier. Auch Vorlagen für gestickte Bilder und Inschriften waren auf dem Markt.

Für die Wandbilder gab es standardisierte Formen, die individuell ausgestaltet wurden. Für die Fachfrau ist klar: „Der Boom hängt auch mit der industriellen Produktion zusammen, die einen Bedarf weckte.“ Spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg endete die Tradition der Erinnerungsbilder, weil sich feste Ordnungen zunehmend aufgelöst hatten, so Christel Köhle-Hezinger.

Zeugnisse der dörflichen Vergangenheit Denkendorfs

Christel Köhle-Hezinger
ist promovierte Kulturwissenschaftlerin. Sie ist 1945 in Esslingen geboren, studierte Empirische Kulturwissenschaft, Germanistik, Amerikanistik und Landesgeschichte und lehrte an den Universitäten Stanford, Tübingen und Stuttgart. Es folgten Professuren in Marburg und Jena. Seit 2011 ist sie emeritiert. Christel Köhle-Hezinger lebt in Esslingen und wurde 2003 mit dem Esslinger Kulturpreis und 2022 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

Heimatmuseum
Das Rolf-Deuschle-Heimatmuseum ging aus der heimatkundlichen Sammlung hervor, die 1964 von Rolf Deuschle, bis heute Leiter des Museums, begonnen wurde. Im Haus Krazeisen, der ehemaligen Schmiede in der Kirchstraße, werden bäuerliche und handwerkliche Sammlungen aus der dörflichen Vergangenheit Denkendorfs gezeigt. Darunter auch die Erinnerungsbilder. Gegenüber, im Gasthaus „Alter Bären“, befindet sich der orts- und klostergeschichtliche Teil. Das Museum ist einmal im Monat geöffnet.