Jugendliche aus Stuttgart haben beim Projekt „Fragezeichen“ Zeitzeugen der NS-Verfolgung befragt. Die entstandenen Kurzfilme werden neu editiert.

S-Mitte - Charlotte Isler leuchtete es ein, warum Jugendliche es interessieren könnte, sie nach der Zeit des Nationalsozialmus zu befragen. Sie sei begeistert gewesen, als sie die Anfrage aus Stuttgart erhielt, erzählt Isler in ihrem über das Videoportal Zoom zugeschalteten Arbeitszimmer in der Stadt Irvington bei New York. „Ich finde es wichtig, dass die heutige Jugend so viele Jahre nach der Hitlerzeit wissen will, was die Vorfahren angerichtet haben“, meint die 96-Jährige.

 

Die Zeitzeugin hat ihre Erinnerungen in dem auf Deutsch erschienenen Gedichtband „Das Leben ist trotzdem schön“ verarbeitet. Sie erlebte bis zum Beginn der NS-Herrschaft 1933 eine unbeschwerte Kindheit in Stuttgart. 1939 floh die jüdische Familie in die USA. Die Großmutter Sigmunde Friedmann blieb zurück. Die Nazis ermordeten sie 1944 im KZ Theresienstadt.

Jugendliche befragten Zeitzeugen

Isler wurde 2014 im Rahmen des Projekts „Fragezeichen“ dabei gefilmt, wie sie mit zwei Stuttgarter Jugendlichen Orte aus ihrer Kindheit besuchte. Sie stand mit ihnen vor der enteigneten Fabrik der Familie an der Adlerstraße. Isler berichtete vor der heutigen Kaufmännischen Schule Süd an der Zellerstraße, wie sie auf der damaligen Königin-Charlotte Realschule den Tag der Novemberpogrome 1938 erlebte. Der Direktor habe sich geweigert, ihr eine Erklärung zu geben, warum er das jüdische Mädchen von der Schule warf, berichtet sie. Isler beschreibt ihre beiden Interviewer als gut informierte Gesprächspartner. Einer von ihnen war Fabian Brüssow.

Der heute 27-Jährige und Isler wechseln in dem Interview immer wieder zwischen den Anreden Du und Sie. Brüssow erinnert sich an die Intensität des Gespräches. „Es war, als säßen wir in Charlottes Wohnzimmer und wären Teil ihrer Lebensgeschichte geworden“, sagt er. Brüssow war einer von rund 35 jungen Stuttgartern, die zwischen 2012 und 2020 an dem von der Stadt finanzierten Projekt „Fragezeichen“ des Stadtjugendrings und der Stolpersteininitiative teilgenommen haben. Es will 2021 die 25 gedrehten Kurzfilme mit den Interviews von Stuttgarter Jugendlichen mit Zeitzeugen neu editieren und online veröffentlichen.

25 Kurzfilme sind entstanden

Das Material soll dann vor allem Schulklassen zur Verfügung stehen. Vier der Filme wurden bei Reisen nach Israel 2014 und nach New York 2016 gedreht. Dabei sei der Ansatz, Jugendliche die Interviews führen zu lassen, zunächst nicht unumstritten gewesen, bemerkt Harald Stingele von der Stolpersteininitiative. Es habe die Meinung gegeben, dass Jugendliche nicht professionell genug seien für solche Interviews, meint Stingele. „Uns ging es aber darum, dass sie die heutige Generation auch mit den Fragen auch identifizieren können“, sagt er.

Junge Menschen sollen Geschichte vermitteln

Inzwischen ist die Idee, Jugendliche als Übermittler der Lebensgeschichten von NS-Überlebenden einzusetzen weiter verbreitet. Der Essener Verein „Zweitzeugen“ bildet junge Menschen dazu aus, die Geschichten hochbetagter NS-Überlebender zu erzählen. Sie werden in einigen Jahren nicht mehr da sein, um ihre Erlebnisse während der Zeit von 1933 bis 1945 selbst zu schildern.

Die Jugendlichen sollen mit ihrem eigenen Erfahrungshorizont helfen, die Ereignisse und Erfahrungen für in der heutigen Welt sozialisierte Menschen nachfühlbarer machen, erklärt Stingele. Er berichtet, dass der Stadtjugendring vor dem Beginn des Projekts auf Stuttgarter Schulen zugegangen sei. „Sie wurden gebeten, besonders an Geschichte interessierte Schüler anzusprechen“, erzählt Stingele. Ein Drittel der Interviewer zwischen 15 und 18 Jahren habe Migrationshintergrund gehabt, fügt er hinzu: „Ein Mädchen hatte jordanische Wurzeln.“ Die Initiative Stolperstein habe die Jugendlichen auf die Gespräche und die Biografien der Interviewpartner vorbereitet.

Weitere Verfolgte berichten vom Terror

Neben in Stuttgart geborenen Juden, kommen in den Interviews auch andere vom NS-Staat verfolgte Gruppen zu Wort. Der Sinto Peter Reinhard berichtete etwa vom Überleben seines Vaters Anton in einem Zwangsarbeiterlager in Nürtingen. Heinz Hummler schilderte, wie er als Sohn des hingerichteten Kommunisten Anton Hummler den Krieg überlebte.

Fabian Brüssow ist froh, dass er sich an den Zeitzeugeninterviews beteiligt hat: „Sollte ich mal jemanden treffen, der die Verbrechen der Nazizeit leugnet, kann ich immer sagen, ich habe mit Menschen gesprochen die sie selbst erlebt haben.“ Die Zeitzeugin Charlotte Isler hofft, dass es solche Initiativen auch in Zukunft geben wird. „Ich finde es wichtig, dass die Menschen heute auch erfahren, dass wir weitergelebt haben“, sagt sie.