Blick in die Schau „Gestapo vor Gericht“ Foto: HdG/Daniel Stauch
„Gestapo vor Gericht“ heißt die erste Sonderausstellung im Lern- und Erinnerungsort Hotel Silber in Stuttgart – und bietet eine Bestandsaufnahme der Terror-Verschleierung.
Nikolai B. Forstbauer
08.12.2023 - 07:00 Uhr
Am 15. September 1949 wird Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Dreieinhalb Monate später, am 31. Dezember 1949, verabschiedet der Bundestag in Bonn als eines der ersten Gesetze überhaupt das Straffreiheitsgesetz, am 1. Januar 1950 tritt das Gesetz in Kraft. Kleinkriminalität nach dem Zusammenbruch Hitler-Deutschlands gilt das Gesetz offiziell – ein Neuanfang soll möglich sein. Den Amnestie-Ball aber nehmen ganz andere Täter auf. Nicht der Umschlag von Waren auf den Schwarzmärkten nach Kriegsende steht zur Disposition, sondern das juristische Verfolgen staatlicher Menschenhatz.
Das Straffreiheitsgesetz von 1950 ist indes nur ein Stein in einem noch immer nicht in Gänze zu übersehenden Mosaik der Täter in Anzug wie in Uniform, sich möglicher Strafverfolgung zu entziehen. Unter dem Titel „Gestapo vor Gericht – Die Verfolgung von NS-Verbreche(r)n“ versucht nun eine Präsentation im Lern- und Erinnerungsort Hotel Silber in Stuttgart (organisatorisch eine Außenstelle des Haus der Geschichte), deutlich mehr Licht in die Frage zu bringen, in welchem Maß es eine rechtliche Aufarbeitung der Taten der Geheimen Staatspolizei in Hitler-Deutschland gab und geben konnte.
Sprechende Ausstellungsarchitektur
Lea-Theresa Berg und Friedemann Rinke haben das Projekt erarbeitet – und überraschen die Besucherinnen und Besucher zunächst mit einer auf die vielfache Vernetzung der Täterlinien hindeutenden Raumstruktur (büroberlin mit Julia Volkmar). Nüchtern, fast unterkühlt, begegnen die Täter-Biographien dem Publikum. Täter-Biographien, die alle mit dem Gebäude des einstigen Hotel Silber zu tun haben. Seit 1933 ausschließlich Zentrum der Politischen Polizei in Württemberg, wird das Hotel Silber von 1936 an direkt von Berlin aus gelenktes Zentrum der Geheimen Staatspolizei im Südwesten. Bis zum deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 wirken die Gestapo-Beamten von Stuttgart aus gegen die erklärten Feinde im Inneren des „Reiches“, schnell aber folgt die Gestapo der Wehrmacht in besetzte Länder.
2018 eröffnet: Lern- und Erinnerungsort Hotel Silber in Stuttgart Foto: HdG/Daniel Stauch
Welch individuelle Widersprüchlichkeit auf Täterseite entsteht, zeigt der Schluss dieser ungemein überzeugenden und mit zahllosen Details aufwartenden Schau. Walter Baar, für die Geheime Staatspolizei im polnischen Tarnow aktiv und an der Verschleppung und Ermordung von Juden beteiligt, sucht Mitte der 1950er den Kontakt zu Karl Adler. Der jüdische Musikwissenschaftler, im Ersten Weltkrieg hoch dekorierter Frontkämpfer, übernimmt, schon 1933 aus seinen Leitungspositionen im Stuttgarter Musikleben gedrängt, 1938 die Leitung der „Zentralstelle für das Jüdische Vereins- und Veranstaltungswesen“. Mit den Pogromen am Abend des 9. November 1938 bleibt der unter Aufsicht der Gestapo stehenden „Zentralstelle“ nur eine Aufgabe – die Auswanderung jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus Stuttgart zu organisieren.
Adlers Gegenüber in der Gestapo-Zentrale im vormaligen Hotel Silber ist Walter Baar. Der Täter eröffnet 1954 einen Briefwechsel mit nur einem Thema: Karl Adler, dem 1940 mit seiner Frau selbst die Flucht in die USA gelingt, möge bezeugen, dass er als Beamter korrekt gehandelt habe. Was Baar verschweigt: In Tarnow ist er wesentlich an der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung beteiligt. Nicht anders als überraschend viele Täter wird Walter Baar indes in einem in Bochum geführten Prozess 1973 freigesprochen – für ihn Anlass eines erneuten Schreibens, nun an die Witwe des kurz zuvor gestorbenen Karl Adler. Grete Adler aber dringt in ihrer Antwort berührend höflich auf jene Seiten der Urteilsbegründung, in denen Baars Verbrechen in Tarnow offenbar werden.
Das real Böse als willkommene Projektionsfläche
Nüchtern ordnet „Gestapo vor Gericht“ den Umgang mit den Tätern in die Zeitläufte ein. Dazu gehören gegensätzliche Interessen der Alliierten, die frühe Ost-West-Spannung wie auch die auf nahezu allen Ebenen eingeforderte „Schlussstrich“-Doktrin. Eher versteckt, aber doch unmissverständlich macht diese erste im zweiten Obergeschoss des Lern- und Erinnerungsortes Hotel Silber zu sehende (und über zahlreiche Tondokumente vor allem zu hörende) Schau zudem deutlich, dass das Desinteresse an der Vertreibung der jüdischen Bevölkerung in den 1930er Jahren sich in den 1950er Jahren bestätigt. Bereitwillig aber, auch dies machen Lea-Theresa Berg und Friedemann Rinke deutlich, hat man sich auf Jene gestürzt, die für das Abgrund-Böse stehen – wie etwa der erst im Frankfurter Auschwitz-Prozess angeklagte und zu lebenslanger Haft verurteilte Wilhelm Boger.
Gewichtiges Argument für den Erinnerungsort
„Gestapo vor Gericht“ ist eine ungemein wichtige Ausstellung, die folgerichtig staatliche Verbrechen der Gegenwart nicht ausklammert. Und es ist eine Schau, die im Ton und in der Informationsdichte selbst ein Spiegel gesellschaftspolitischen Wollens ist. Dieses zielt auf ein Miteinander, das sich aus Offenheit begründet. Bundes-Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) und die Baden-Württemberg Stiftung tragen diesen Ansatz mit gutem Grund mit und machen mit Fördersummen von 250 000 und 150 000 Euro dieses Projekt überhaupt erst möglich. Bis zum 2. Februar 2025 zu sehen, markiert der Start von „Gestapo vor Gericht“ am 7. Dezember den Beginn der Veranstaltungswoche zum fünfjährigen Bestehen des Lern- und Erinnerungsortes Hotel Silber. Die Ausstellung ist neuerlich ein großartiges und gewichtiges Argument für dieses Angebot an die Öffentlichkeit.
Die Schau und ihr Ort
Die Schau „Gestapo vor Gericht“ zeigt Filme, Töne und Fotos. Teil der räumlichen Inszenierung sind Kurzbiografien aller Beschäftigten der württembergischen Gestapo, gegen die ermittelt wurde.
Der Ort Erinnerungsort Hotel Silber, Stuttgart, Dorotheenstraße 10. Dienstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Eintritt 2 Euro (ermäßigt: 1 Euro).
Das Jubiläum Die Vielfalt der Aktivitäten im „Hotel Silber“ spiegeln auch die Jubiläumstage wider: Von der musikalischen Mittagspause (14.12., 12.30 Uhr) und dem Swingfest (9.12., 19 Uhr) über mehrere Kurzführungen am Mittag (12.30 Uhr) durch die neue Sonderausstellung „Gestapo vor Gericht“ und einen Blick hinter die Kulissen (10.12., 16 Uhr) bis zum Speakers‘ Corner (11. und 13.12., jeweils 17 Uhr) und einem Podiumsgespräch mit Rück- und Ausblick zum Erinnerungsort (Montag, 11. Dezember, 18 Uhr bis 19.30 Uhr, unter anderen mit Kunststaatssekretär Arne Braun) bieten das Haus der Geschichte und die Initiative ein Dutzend Programmpunkte.