Es ist morgens um sechs, als in einem Büro an der Neckarstraße im Stuttgarter Osten die Spannung steigt. Das Büro gehört Oliver Hoffmann, Abteilungsleiter Wirtschaftskriminalität des Landeskriminalamts. Gemeinsam mit dem Pforzheimer Staatsanwalt Lars Jaklin wartet er auf einen Anruf aus London. Vor Monaten hatte man einen Kurier einer Schockanrufer-Bande erwischt, ein kleines Licht. Doch nun, Mitte Juni, stehen die Ermittler vor einem gemieteten Haus in London – vor der Höhle des Löwen. Dem vermuteten Bandenboss.
Am Freitag haben das LKA und die Pforzheimer Staatsanwaltschaft das Ende dieser Geschichte verraten: Den Fahndern ist ein Schlag gegen einen Anrufbetrüger-Clan polnischer Herkunft gelungen – inklusive der Festnahme des 41-jährigen mutmaßlichen Chefs und einer 21-Jährigen, die ebenfalls dem Führungszirkel des Familienclans angehören soll. Sie wurde in Barcelona gefasst.
Sillenbucherin verliert Hunderttausende
Auf der Liste der Straftaten dieser Gruppierung steht etwa ein Fall in der Gänsheide im Stuttgarter Osten Mitte März. An diesem Tag waren Täter auch bei einer Seniorin in Sillenbuch zugange, die Gold und Uhren im Wert von mehreren Hunderttausend Euro hergab, weil sie ihre Tochter vor einer Haftstrafe bewahren wollte. Ähnliches im April in Tamm (Kreis Ludwigsburg) und Leonberg (Kreis Böblingen). Die Masche ist stets dieselbe: Vorwiegend ältere Menschen werden am Telefon mit der Legende überrumpelt, ein naher Angehöriger habe einen tödlichen Unfall verursacht und könnte nur gegen eine hohe Kaution vor einer Inhaftierung bewahrt werden.
Die traurige Schadensbilanz: gut 200 Opfer und elf Millionen Euro Schaden. „Explizit nachweisen können wir mehr als 120 Fälle mit fünf Millionen Euro Beute“, sagt LKA-Mann Hoffmann. 1,4 Millionen Euro Schaden habe man verhindern können. Als die Polizei in London die Täter dingfest machte und in Stuttgart Vollzug meldete, konnte Hoffmann auch Polizeitrupps in Frankfurt am Main, Neuss, Kaarst und Haan in Holland in Gang setzen. Festnahmen gab es dort keine. Sichergestellt wurden aber für 160 000 Euro Bargeld, Schmuck, Münzen und Barren aus Gold. Seit September 2022 wurden deutschlandweit 70 Verdächtige festgenommen, 14 Abholer sind verurteilt.
Ein bekannter Clan – die Erfinder des Enkeltricks
Der Fall wirft ein weiteres Licht in eine international weit verzweigte Clankriminalität – in diesem Fall mit Beteiligten eines polnischen Clans. Bei dem mutmaßlichen Kopf der Gruppe, dem 41-Jährigen, handelt es sich nach Informationen unserer Zeitung um einen Angehörigen eines altbekannten polnischen Clans, dessen Oberhäupter einst im Jahr 2000 den berüchtigten Enkeltrick erfunden hatten. Doch selbst Razzien und mehrjährige Haftstrafen konnten die Lawine des Millionengeschäfts nicht mehr stoppen.
Die nächsten Generationen von „Hoss“ und Co. haben offenbar die Geschäfte weiterentwickelt. Der Schaden im Südwesten durch Anrufbetrügereien lag im vergangenen Jahr bei 20,6 Millionen Euro. „Dabei wird nicht nur in Deutschland abgezockt“, sagt Hoffmann, einst Stuttgarter Mordermittler, später Polizeiberater im Kosovo, außerdem Präsident der deutschen Sektion der International Police Association (IPA), „das gibt es auch in Griechenland oder in Polen selbst.“ In seiner Heimat ist dem einschlägig bekannten 41-Jährige das Pflaster wohl zu heiß geworden. Die polnische Justiz hatte ihn mit Haftbefehl wegen 123 Taten in Polen international gesucht. „Daraufhin hat er sich nach England abgesetzt“, sagt Hoffmann.
Täterhandys als tägliche Wegwerfware
Was eigentlich nur folgerichtig ist: „London ist ein internationaler Finanzplatz“, sagt der Leiter der Staatsanwaltschaft Pforzheim, Franz-Josef Heering, „dort lassen sich illegale Geldströme gut verwalten.“ Für Hoffmann zählt noch ein anderer Vorteil: „Man kann dort relativ leicht einen Wohnsitz anmelden“, sagt er. Und von dort aus mit Wegwerfhandys und stapelweise SIM-Karten agieren: „Die Täter nutzten ihre Handys maximal einen Tag lang, dann wurden sie weggeworfen“, sagt Hoffmann. Das macht Ermittlungen aufwendig.
Den Stein ins Rollen gebracht hat der Pforzheimer Staatsanwalt Lars Jaklin, dem die Kripo Calw im September 2022 einen 30-jährigen polnischen Kurier beschert hatte. Der sagte, dass er über eine Jobbörse in Polen geworben worden sei. Und weil es noch weitere viel versprechende Ansätze gab, übernahm der 34-jährige Jurist ein Sammelverfahren für alle Fälle im Südwesten – unterstützt vom LKA und dessen Ermittlungsgruppe „Phänomene“, die sich speziell um besondere Kriminalitätstrends kümmert. Ein Vorbild für dieses Sammelverfahren gibt es bereits in Bayern. Dort nennt es sich „Traunsteiner Modell“ – und das Landgericht Traunstein hat dank gesammelter Erkenntnisse bereits zweimal Haftstrafen von mehr als zehn Jahren verhängen können. Erst im April hat der Bundesgerichtshof ein Urteil gegen einen 24-jährigen Teamleader bestätigt – zehn Jahre und acht Monate Haft.
Wird der Boss je vor einem deutschen Gericht stehen?
Auch die Münchner Polizei hat eine Arbeitsgruppe namens „Phänomene“ – und war am Südwest-Coup nicht unbeteiligt. Vor dem Schlag in London hat, aufgrund der Münchner Ermittlungen, die polnische Polizei in Krakau und Posen drei sogenannte Logistiker der Bande verhaftet. Wird aber der 41-jährige mutmaßliche Boss bald hier vor Gericht stehen? Mutmaßlich wird er von den britischen Behörden eher nach Polen ausgeliefert und dort abgeurteilt. Doch Staatsanwaltschef Heering setzt auf ein Nachtragsersuchen: „Wir wollen unsere Fälle vor deutschen Gerichten verhandeln“, sagt er, „wir bleiben da dran.“