Ein 22-jähriger Ludwigsburger soll grundlos einen Mann krankenhausreif geprügelt haben. So steht es in der Anklage. Doch die Verhandlung wird zum Desaster. Offenbar hat die Polizei entlastende Aussagen ignoriert – denn Zeugen berichten, der Angeklagte habe beherzt einen Gewaltexzess unterbunden.

Nachrichtenzentrale: Tim Höhn (tim)

Ludwigsburg - Selbst die Staatsanwältin wusste nach der Zeugenvernehmung nicht mehr so recht, was sie sagen sollte. Sie sei sehr irritiert, sagte sie dann, und das bezog sich auf die Ermittlungen der Polizei, genauer: der Satz ist eine Ohrfeige für die Ermittler. Danach stellte sie den Antrag, den Angeklagten, der seit Mitte Dezember in Untersuchungshaft sitzt, frei zu lassen, und die Richterin folgte dem Vorschlag. Denn seit Dienstag deutet sich an: Hier sitzt der Falsche auf der Anklagebank.

 

Sollte das zutreffen, wäre es ein ebenso ungeheuerlicher wie ungewöhnlicher Vorgang. Angeklagt ist ein 22-jähriger Ludwigsburger wegen gefährlicher Körperverletzung. Er soll im Juni 2015 im Verlauf einer Auseindersetzung vor der Gaststätte Kanone in Ludwigsburg einen Kontrahenten geschlagen haben – ohne Anlass und so heftig, dass dessen Kiefer brach.

Die Anklage steht auf dünnem Eis

Diese Version stützt sich auf die Aussage des Opfers. Nach der Frage der Richterin, wer ihn geschlagen habe, deutete der Mann auf den Angeklagten. Wieso er das so genau sagen könne? „Das haben mir andere später erzählt“, erwiderte er. Er selbst habe den Schläger nicht genau gesehen.

Das ist dünnes Eis, um darauf eine Anklage zu bauen. Vollends aus dem Ruder lief die Beweisaufnahme aber erst, als alle andere Zeugen eine ganz andere Version erzählten, die den Angeklagten in einem völlig anderen Licht dastehen lässt. Denn wenige Minuten vor dieser Schlägerei hatte es vor der Kanone schon einmal geknallt. Bei dieser Auseindersetzung wurde ein 22-jähriger Remsecker krankenhausreif geschlagen: Jochbeinbruch, Kieferbruch. Er und einer seiner Begleiter von damals berichteten am Dienstag, wie sie spätnachts zufällig an dem Lokal vorbeigelaufen seien. Ein stark alkoholisierter Gast habe sie provoziert und den 22-Jährigen plötzlich mit einem Faustschlag niedergestreckt. Weitere Gäste seien hinzugekommen und hätten den Schläger unterstützt, während dieser auf den am Boden Liegenden eintrat.

Entlastende Aussagen wurden offenbar ignoriert

Mit Nachdruck erklärten diese beiden Zeugen, nur dank des beherzten Eingreifens eines Unbeteiligten sei Schlimmeres verhindert worden. Dieser habe den Schläger zur Seite geschubst und den wehrlosen 22-Jährigen aus der Gefahrenzone gebracht. Bei diesem Unbeteiligten handelt es sich: um den Angeklagten. Der vor Gericht ebenfalls betonte: „Ich wollte nur helfen.“ Aber als er sich eingemischt habe, sei auch er von den Umstehenden attackiert worden, und habe sich gewehrt. Es sei möglich, dass er dabei jemanden im Gesicht getroffen habe, aber: „Ich wollte nie jemanden verletzen. Ich hatte einfach Angst, dass der Junge am Boden stirbt.“

Seltsam daran ist, dass bis Dienstag weder Gericht noch Staatsanwaltschaft von diesen entlastenden Aussagen wussten. Obwohl das Opfer der ersten Schlägerei und sein Begleiter versicherten, sie hätten all dies genauso der Polizei erzählt, taucht davon in den Akten nichts auf. Die beiden jungen Männer kannten den Angeklagten nicht und dürfen als neutral gelten. Gestützt wird ihre Aussage von einem weiteren Zeugen, der enger mit dem Angeklagten befreundet ist.

Auch die Rolle des Mannes, der ausgesagt hat, der Angeklagte habe ihm den Kiefer gebrochen, muss nun geklärt werden. Denn er ist offenbar ein Bekannter des Kanone-Gasts, der die erste Schlägerei angezettelt hat. „Wenn sich das alles bewahrheitet, ist mein Mandant wegen einer falschen Verdächtigung in Haft gekommen“, sagte die Verteidigerin, was ein schwerwiegender Vorwurf ist. Polizei und Staatsanwaltschaft wollten sich nach der Verhandlung nicht zu möglichen Ermittlungspannen äußern. Der Prozess wird am 11. Februar mit weiteren Zeugenbefragungen fortgesetzt.