Die Preise für Lebensmittel explodieren weltweit: Der Preisindex für Grundnahrungsmittel steht höher als 2008 zur Nahrungsmittelkrise.

Korrospondenten: Jan Dirk Herbermann (jdh)
Stuttgart - Das neue Jahr hatte kaum begonnen, da wagte einer der renommiertesten internationalen Lebensmittelexperten eine Prognose: Um Ostern, also Ende April, würden Hungerrevolten ausbrechen, warnte der Franzose Philippe Chalmin. Der Pariser Wirtschaftsprofessor und Berater der französischen Regierung sagte angesichts weltweit rasch steigender Nahrungspreise: "Ich bin sehr besorgt." Doch schon wenig später stellte sich heraus, dass die Warnungen des Fachmanns Chalmin sogar noch untertrieben waren. Die explodierenden Lebensmittelpreise lösten am Freitag die ersten schweren Unruhen aus: Bei Protesten in Algerien starben zwei Männer, 400 Menschen erlitten Verletzungen. Eine wütende Menge griff Regierungsgebäude an, Banken und Postfilialen wurden geplündert. Die Regierung in Algier beschloss, Einfuhrzölle und Steuern auf Zucker und Speiseöl zu senken.

Die Ausschreitungen könnten der Auftakt einer globalen Serie von gewaltsamen Demonstrationen gegen kaum noch bezahlbare Lebensmittel sein. In der vorigen Woche schockte die UN-Landwirtschaftsorganisation FAO mit den neuesten Zahlen ihres Preisindexes für die wichtigsten Grundnahrungsmittel: Das Barometer, das die Teuerung von Erzeugnissen wie Weizen, Reis, Korn, Zucker, Speiseöl und Milchprodukten anzeigt, schoss im Dezember auf den höchsten Stand seit seiner Einführung zu Beginn der neunziger Jahre. Mit 214,7 Punkten liegt der Index jetzt sogar über dem Wert von Juni 2008. Damals auf dem Höhepunkt einer weltweiten Lebensmittelkrise, erreichte der Index einen Wert von 213,5 Punkten.

Die Getreidelager der Exporteure leeren sich


Weizen verteuert sich derzeit rasant. "Die Preise ziehen in alarmierender Weise an", warnt der FAO-Experte Abdolreza Abbassian. Mindestens bis zum Sommer 2011 müsse die Welt "aller Wahrscheinlichkeit" nach mit den hohen Lebensmittelpreisen leben. Schon im November hatte die FAO auf die Gefahr neuer "Angebotsschocks" auf den Agrarmärkten hingewiesen. Der französische Fachmann Chalmin fürchtet, dass die Getreidelager der größten Exporteure sich immer weiter leeren. Spätestens im März erwartet Chalmin eine angespannte Lage beim Getreide. Allerdings betont die FAO auch: Die Preise für Reis sind noch stabil - mit Reis ernähren sich Milliarden von Menschen vor allem in Asien.

Welche Folgen massive Preisschübe zumal für arme Länder bringen, zeigte sich 2007 und 2008: In Südamerika, Afrika und Asien zogen Hunderttausende von zornigen Menschen mit leeren Mägen durch die Straßen der Metropolen. Bei den Ausschreitungen in mehr als 30 Ländern kamen Dutzende Menschen ums Leben. Die UN warnten, dass die "soziale, politische und ökonomische Stabilität" vieler Staaten auf der südlichen Halbkugel auf der Kippe stünde. Im Jahr 2009 zählte die Weltorganisation deutlich mehr als eine Milliarde hungernder Menschen. Zwar ging die Zahl der Unterernährten im laufenden Jahr laut FAO-Schätzungen auf 925 Millionen zurück. Doch die neuen Preisschübe drohen den Fortschritt zunichte zu machen. "Aufgrund der Tatsache, dass alle sechs Sekunden ein Kind an den Folgen von Unterernährung stirbt, bleibt Hunger weiterhin die größte Tragödie weltweit", mahnt Jacques Diouf, der Generaldirektor der FAO.

Die Preise sind 2010 gegenüber 2009 um 15 Prozent gestiegen


Die immer teurer werdenden Grundnahrungsmittel treiben auch die Importrechnungen in die Höhe. Die FAO kalkuliert für das vergangene Jahr mit einer Summe von 1,026 Milliarden US-Dollar für eingeführte Esswaren. Das wäre ein Plus von etwa 15 Prozent gegenüber 2009.

Getrieben wird die massive Teuerung vor allem durch Naturkatastrophen in Agrarstaaten: Die Waldbrände in Russland, die anhaltende Dürre in Argentinien und nicht zuletzt die gigantischen Überschwemmungen in Australien vernichten Feldfrüchte - und verknappen das Angebot. Hinzu kommen langfristige Faktoren wie der wachsende Appetit der beiden Milliardenvölker China und Indien. Laut offiziellen Ermittlungen aus Neu-Delhi stiegen die Preise für Lebensmittel in Indien zum Stand letzter Woche die fünfte Woche in Folge.

Doch auch in anderen Teilen der Welt zieht die Lebensmittelnachfrage an: Bis zum Jahr 2050 wird die Weltbevölkerung von heute rund 6,8 Milliarden Menschen auf 9,1 Milliarden Männer, Frauen und Kinder anwachsen. Um alle satt zu bekommen, müsste die Lebensmittelproduktion laut FAO bis zur Mitte des Jahrhunderts um rund 70 Prozent steigen. Empfohlen wird eine Ausweitung der Anbauflächen und Ertragssteigerungen. Doch andere Fachleute bezweifeln, dass die geforderte Produktionssteigerung realistisch ist. "Das ist eine schier unmögliche Aufgabe angesichts der stagnierenden Flächenausweitung und einer auf Produktionssteigerung ausgerichteten Landwirtschaft, die fast überall an ihre Grenzen stößt", warnt Jean Feyder, Botschafter Luxemburgs bei der Welthandelsorganisation. Entwicklungsfachmann Feyder fordert einen radikalen Umbau des gesamten Ernährungssystems - anderenfalls drohe der ökologische und soziale Kollaps. Vor allem die ressourcenintensive Fleischproduktion lässt sich laut Feyder kaum noch rechtfertigen: Rund 40 Prozent des weltweit geernteten Getreides wird an Vieh verfüttert.