Die SPD kommt nicht nur Ruhe. Am Mittwoch gehen die Vorgespräche über die Sondierung einer großen Koalition weiter. Dann provoziert der Ex-Parteichef und Noch-Außenminister Sigmar Gabriel mit dem Appell, dass die SPD auch über Leitkultur und Heimat nachdenken sollte.

Berlin - Am Montag war Sigmar Gabriel wieder ganz Außenminister. Er freute sich über die Freilassung der deutschen Journalistin Mesale Tolu aus der Haft in der Türkei und machte dem Regierungschef der kurdischen Autonomieregion im Nordirak Nechirvan Barsani klar, dass die Bundesregierung zu weiteren Finanzhilfen bereit ist – unter der Voraussetzung, dass der Irak seine inneren Konflikte friedlich bewältigt.

 

Über das Wochenende hinweg war Gabriel nicht so diplomatisch unterwegs. Gemessen an dem überwiegend dröhnenden Schweigen, das er auslöste, hat er die Genossen mit einem Essay im jüngsten „Spiegel“ mächtig aufgemischt. Unter dem Titel „Sehnsucht nach Heimat – wie die SPD auf den Rechtspopulismus reagieren muss“, hatte er seiner Partei eine Kurskorrektur nahegelegt und sie aufgefordert, sich mit Begriffen wie „Heimat“ und „Leitkultur“ anzufreunden. „Ist die Sehnsucht nach einer ,Leitkultur‘ angesichts einer weitaus vielfältigeren Zusammensetzung unserer Gesellschaft wirklich nur ein konservatives Propagandainstrument, oder verbirgt sich dahinter auch in unserer Wählerschaft der Wunsch nach Orientierung in einer scheinbar immer unverbindlicheren Welt der Postmoderne?“, fragte der Genosse seine Parteifreunde. Die SPD hat nach Gabriels Diagnose ihren politischen Kernauftrag auch deshalb verfehlt: „Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit“. Die SPD habe „oftmals zu viel Grünes und Liberales und zu wenig Rotes“ vertreten und dabei übersehen, dass auch zu ihren Kernwählern Menschen zählten, „die mit dem Schlachtruf der Postmoderne ,Anything Goes’ nicht einverstanden sind.“

Schulz hält Leitkulturdebatte für historischen Unsinn

Zwar hat die SPD auf ihrem Parteitag vor nicht einmal zwei Wochen beschlossen, dass die Erneuerung der SPD unabhängig von einer möglichen Regierungsbeteiligung weiter vorangetrieben werden soll. Aber so haben Parteichef Martin Schulz und die Spitzengenossen im Willy-Brandt-Haus sich das sicher nicht vorgestellt. Den Parteitagsdelegierten wird noch in den Ohren klingen, dass Schulz sich vor eineinhalb Wochen ganz anders eingelassen hat, als Gabriel es nun anregt. „Eine Leitkulturdebatte, wie sie manche bei uns fordern, ist nicht zeitgemäß – sie ist historischer Unsinn“, sagte Schulz damals im Berliner City-Cube. „Eine vielfältige, eine plurale, gleichberechtigte Gesellschaft ist stärker, weil sie kreativer ist.“

Auf den Pluralismus in der SPD mag Gabriel sich jetzt auch berufen. Dass er Schulz öffentlich widerspricht, wird aber als unfreundlicher Akt wahrgenommen Immerhin haben die Spitzengenossen, die in Verantwortung stehen, gerade alle Hände damit zu tun, die Partei auf den Weg der Sondierungen mit der Union mitzunehmen. Am Mittwoch gehen die Gespräche mit CDU/CSU in die nächste Runde und für die SPD bleibt dieser Weg steinig. Am Freitag hatte der SPD-Vorstand sich einstimmig für die Sondierung ausgesprochen, am Wochenende positionierte der Thüringer Landesverband sich per Beschluss dagegen.

Breymaier: Schulz hat keine Zeit für wohlfeile Artikel

Die Reaktionen auf Gabriels Einwurf sind verhalten. Viele Unterstützer sind nicht aus der Deckung gekommen. Der Innenpolitiker Burkhard Lischka ist einer davon. „Ich verstehe den Text als einen Beitrag zur umfassenden Debatte zur Erneuerung der SPD. Einer Debatte, in der wir klären müssen, was gut lief in den vergangenen Jahren und was schlecht“, sagte Lischka im Gespräch mit unserer Zeitung. „Es geht darin nicht nur um die SPD in Deutschland, sondern auch um die künftige Entwicklung der Sozialdemokratie in Europa. Der Diskussion darüber sollten wir keine Denkverbote voranstellen.“ Der nordrhein-westfälische SPD-Landeschef Michael Groschek betonte, die Genossen dürften „den Begriff Heimat nicht den Rechten überlassen“. Dagegen macht Leni Breymaier, die SPD-Vorsitzende im Südwesten, aus ihrem Ärger über Sigmar Gabriel keinen Hehl. „Er hatte noch vor einem Jahr Zeit, die notwendigen Dinge in der allerersten Reihe anzugehen“, erklärte sie gegenüber unserer Zeitung. „Jetzt möge er es einfach aushalten, wenn ein anderer Vorsitzender ist und im Moment einfach anderes zu tun hat, als wohlfeile Artikel zu schreiben.“

Am vielsagendsten aber ist das Schweigen in den oberen Etagen der Sozialdemokratie. Andrea Nahles, Fraktionschefin im Bundestag, wollte sich ebenso wie die übrige Fraktionsspitze nicht zu Gabriels Vorschlägen äußern. Auch das Willy-Brandt-Haus gab keinen Kommentar ab.